Nacht ohne Schatten
ist. Im Moment des Aufwachens glaubte sie plötzlich Fallschirme am Himmel zu sehen, tödliche Pilze, und sie war sicher, die Stimme identifizieren zu können, den Sprecher zu sehen, ja, ihn zu kennen. Sie griff nach Schreibblock und Stift, die sie auf dem Nachttisch neben dem Telefon bereitgelegt hatte. Doch mit jeder Sekunde nach dem Klingeln des Weckers war ihr die Stimme weiter entglitten, bis nichts als ein diffuses Unbehagen blieb, das Judith nicht als Angst bezeichnen will. Trotzdem hat sie an diesem Morgen ihre Kleidung sorgfältiger ausgewählt als sonst, hat sich für die Marlene-Dietrich-Hose, die schwarze Bluse und den meerblauen, grobmaschigen Mohairpullovermit dem V-Ausschnitt entschieden. Sie hat noch einen Augenblick vor dem Garderobenspiegel gestanden und versucht, das Rätsel der Nacht zu lösen, in der es diesmal keinen Anruf gab. Ich muss mich wappnen, hat sie gedacht, ohne sagen zu können, wofür.
Judith lehnt sich im Bürostuhl zurück, dreht sich eine Zigarette. Es ist fast Mittag, die meisten Kollegen sind unterwegs. Schlingen in der Kantine das Tagesgericht runter. Befragen Anwohner, ermitteln die Personalien der Kunstfabrikmieter und Angestellten der Pizzeria Rimini. Fahnden im Obdachlosenmilieu nach dem ominösen Mann, den der Zeuge auf den Gleisen gesehen haben will, auch wenn es immer unwahrscheinlicher wird, dass es diesen Mann überhaupt gibt. Judith selbst ist auf Millstätts Anweisung hin im Präsidium geblieben und versucht, die Spuren und Fragmente zu ordnen und daraus eine Strategie für das weitere Vorgehen zu entwickeln. Ein Job, den klassischerweise die Teamleitung übernimmt, aber wieder war sie zu stolz, Millstätt darauf anzusprechen. Hofft sie, dass er sie befördert? Nicht einmal dessen ist sie sich sicher. Auf jeden Fall sehnt sich ein Teil von ihr nach etwas, das nicht hier in diesem Präsidium liegt.
Judith zündet ihre Zigarette an. Die Vernehmung der obdachlosen Frau aus den Bahnkatakomben hängt ihr noch nach. Die Unmöglichkeit, sie zu erreichen. Judith inhaliert tief, betrachtet das Flipchart. Sie hat die Namen der Opfer in rote Kreise geschrieben: Wolfgang Berger. Luigi Baldi. Das Mädchen X. Pfeile zeigen mögliche Verbindungen zwischen ihnen und weiteren Namen in Blau an, die sie umgeben. Zeugen. Anwohner. Verdächtige. Fragezeichen stehen auf den Pfeilen und neben den Namen, zu viele Fragezeichen.
Sie trinkt einen Schluck lauwarmen Kaffee, wendet sich wieder den Stapeln auf ihrem Schreibtisch zu. Die Brandermittler sind immer noch nicht mit dem Abschlussbericht rübergekommen. In einer Mappe liegen die Porträtfotos der Opfer, Judith heftet sie an die Magnettafel. Luigi Baldi hatte schwarzes, krausesHaar und Augen, die, soweit sie das auf dem vergröÃerten Passfoto erkennen kann, gutmütig aussehen und lustig. Das Mädchen X ist von beinahe durchsichtiger, elfenhafter Schönheit. Wolfgang Berger hat Hamsterbacken und ein fliehendes Kinn. Alle drei sehen Judith an. Was verbindet sie, fragt Judith sich einmal mehr. Warum hat der S-Bahn-Fahrer sich auf die Strecke versetzen lassen, die neben der Pizzeria Rimini endet, in der Luigi Baldi nur einen Tag nach ihm qualvoll starb? Bislang gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass die beiden Männer, die nun nebeneinander in Kühlfächern der Rechtsmedizin liegen, sich lebend je begegnet sind, und die junge Frau kann nicht aussagen, was sie weiÃ.
Judith blättert einmal mehr durch Bergers Obduktionsbericht, dann durch die Protokolle der Spurensicherung. Irgendwo, zwischen all den Informationsbröckchen, die die Soko S-Bahn in den letzten Tagen zusammengetragen hat, steckt der Schlüssel zur Lösung. Sie betrachtet die Fotos aus Bergers Wohnung, das grotesk kitschige Gemälde der nackten Blonden über seinem ungemachten Bett. Um 17 Uhr hat sie einen Termin bei Bergers Bank vereinbart, auch wenn sie es für wenig wahrscheinlich hält, dort etwas AuÃergewöhnliches über ihn zu erfahren. Sie versucht sich vorzustellen, wie der S-Bahn-Fahrer nach einer langen Schicht in seine Wohnung kam, vielleicht eine Flasche Bier öffnete, sich ein Wurstbrot schmierte, die Bahn-Uniform gegen eine Jogginghose vertauschte. Er ist selten ausgegangen, hatte keine zeitintensiven Hobbys, kaum Kontakt zu seinen Eltern, keine engen Freunde, und seiner Einzelverbindungsübersicht zufolge hat er auch niemals mit Luigi Baldi telefoniert. Gibt
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