Nacht ohne Schatten
es diese Frau, die er, wie sein Kollege behauptet, angeblich einmal heiraten wollte, oder war sie Bergers Erfindung? Man habe nie etwas von ihm gehört, sagen die Nachbarn. Auch von Besuch bei ihm wissen sie nichts.
Judith betrachtet die Aufnahmen aus dem Wohnzimmer. Berger wird auf dem Sofa gesessen und Fernsehen geschaut haben, und wenn das Programm zu öde war oder die Einsamkeitzu groÃ, wird er einen seiner Pornos in den DVD-Player geschoben haben. Nichts Verbotenes, nichts allzu Hartes, nur ein bisschen Aufregung gegen die Einsamkeit. Judith nimmt die braune Papptüte mit den Porno-DVDs aus ihrem Regal, das schon jetzt viel zu vollgestopft ist mit Asservaten. Wahllos greift sie nach einer DVD und schiebt sie in ihren Computer. Die Frau, die auf ihrem Monitor erscheint, ist kaum älter als die Komapatientin. Ihre kleinen Brüste wackeln heftig unter den StöÃen des Mannes, der hinter ihr kniet. Bitte, stöhnt sie, bitte, bitte, bis ein weiterer Mann mit erigiertem Schwanz ins Bild kommt, den sie augenblicklich in den Mund nimmt. Judith wirft die DVD aus, steckt willkürlich eine andere in den Computer, deren Inhalt sich nur wenig von dem der ersten unterscheidet. Haben Berger diese stets willigen, stets lächelnden, stets geilen Frauen aus den Filmen auf Dauer genügt? Wahrscheinlicher ist, dass er sich aufgemacht hat, die industriell gefertigte Scheinwirklichkeit mit Leben zu füllen, besser gesagt, mit lebendigem Fleisch.
Judith steckt die DVDs zurück zu den anderen. Jemand muss sich die Filme von Anfang bis Ende ansehen und kontrollieren, ob womöglich in einem die Komapatientin agiert. Makowski von der Sitte, den Millstätt ins Team geholt hat. Sie steht auf, schlängelt sich zwischen Aktenstapeln, Asservaten und Schreibtisch zum Fenster durch. Die Pornobilder sind alles andere als erotisch, und deshalb ärgert es sie umso mehr, dass sich nun auch noch die Erinnerungen an David in ihr Bewusstsein drängen. Das Wasser des kanadischen Sees, an dessen Ufern sie sich geliebt hatten, war wie Seide auf ihrer Haut. Ihr Körper fühlte sich flieÃend und weich an, sie war glücklich, unschlagbar â bis zum jähen, ernüchternden Ende dieser Liaison. Seitdem hat sie sich in die Arbeit gestürzt. Zu sehr vielleicht, zu lange, denkt sie jetzt, mit unerklärlicher Wut.
»Hier ist die Nummer, die du haben wolltest.« Ralf Meuser steckt die Nase zur Tür ihres Büros herein und wedelt mit einem gelben Post-it-Notizzettel.
»Danke, kleb ihn aufs Telefon.« Sie schickt den jungen Kollegen wieder los, diesmal um herauszufinden, was vor über 25 Jahren mit dem Bein der Künstlerin Theodora Markus geschah. »Frauen für Frauen« steht auf dem Zettel, den er zurückgelassen hat. Ein Name, Adresse, Telefonnummer darunter. Sogar eine Website. Immer noch auf der Rückseite ihres Schreibtischs stehend, wählt Judith die Nummer, legt aber sofort wieder auf, als sie das erste Freizeichen hört. Sie schafft es nicht. Jetzt nicht. Nicht so. Durch das Fenster sieht sie den Dom: zwei dunkle Spitzen in verschwommenem Grau. Wieder hat sie dieses Gefühl, dass etwas auf sie zukommt, eine Gefahr, unaufhaltsam, immer schneller. Sie braucht Bewegung, muss raus aus dem winzigen Eckbüro, das sie bei ihrer Rückkehr im Sommer bezogen hat. Eine Notlösung war das eigentlich gewesen, doch weil sie es mit niemandem teilen muss, ist sie geblieben.
Ihr Handy spielt Queen, als sie schon den Ledermantel übergezogen hat. Die Nummer auf dem Display ist die des Journalisten Gero Sanders. Noch so eine Sache, um die sie sich kümmern muss. Sie drückt den Anruf weg, steckt das Handy in die Manteltasche, stürmt auf den Flur.
»Du gehst«, stellt Millstätt fest, den sie auf dem Weg zum Aufzug beinahe über den Haufen rennt.
Sie nickt, hat keine Lust, ihm etwas zu erklären. Hat keine Lust, ihn zu fragen, was er mit ihr plant.
»Gero Sanders«, sagt sie zwei Stockwerke tiefer im Büro des Polizeipressesprechers. »Der will unbedingt eine Story mit mir, hat sogar meine Handynummer. Kommt das von dir?«
»Ein guter Mann, red mit ihm.« Der Pressesprecher knüllt eine Brötchentüte zusammen und wirft sie zielsicher in seinen Papierkorb.
»Ich hab keine Zeit für eine Personalitystory.«
Ihr Gegenüber hält ihr eine Klarsichthülle hin. »Er schreibt diese Story für den
Stern!
Tu es fürs
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