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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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sich gebracht haben, und betrachtet den Mann, der ihr gegenübersitzt. Mittelgroß, mit halblangem, strähnigem Haar, genau wie ihr bislang einziger Zeuge den Mann am Tatort beschrieben hat. Manche zerbrechen halt, hat neulich ein Kollege über die Obdachlosen und Junkies gesagt, die schräg gegenüber dem Polizeipräsidium an der U-Bahn-Haltestelle Kalk Post vor sich hin dämmern. Menschen zerbrechen. Nicht jeder ist zum Leben geschaffen. Doch längst nicht jeder, der zerbricht, wird deshalb zum Mörder.
    Die Stille macht den Obdachlosen nervös, er rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
    Â»Hey, Lady, bitte, ich hab nichts gemacht!«
    Â»Woher haben Sie die Jacke mit Bahn-Logo?«
    Â»Gefunden.« Der Mann zieht die Nase hoch, fährt sich mit dem schmuddeligen Pulloverärmel übers Gesicht.
    Â»Die Jacke gehört dem S-Bahn-Fahrer Wolfgang Berger. Berger wurde ermordet. Ganz in der Nähe vom Tatort haben meine Kollegen Sie vorhin festgenommen.«
    Â»Ich hab nichts gemacht!«
    Â»Sie haben Wolfgang Bergers Jacke gestohlen.«
    Â»Gefunden.«
    Â»Wo?«
    Â»Weiß ich nicht mehr, irgendwo an den Gleisen.« Wieder zieht der Mann Rotz hoch, ein Geräusch, das Judith schon immer schwer ertragen konnte. Früher haben Edgar und Artur sie damit geärgert. Sie stützt die Ellbogen auf die Resopalplatte, fixiert Gregor Schmidt, bis er den Blick senkt.
    Â»Sie haben Wolfgang Berger umgebracht.«
    Â»Nein!« Schmidts Kopf schießt wieder hoch. »Ich schwör’s.«
    Â»Sie haben Wolfgang Berger umgebracht«, wiederholt Judith. »Sagen Sie mir, warum.«
    Der Obdachlose schüttelt den Kopf, langsam, beinahe wie in Zeitlupe, als würde er sich wirklich Mühe geben, aber Judith trotzdem nicht verstehen. Die Tür zum Vernehmungszimmer quietscht, doch statt Manni, dem sie bereits vor einer Stunde auf die Handymailbox gesprochen hat, steckt ein Polizeimeister den Kopf herein und bedeutet Judith zu kommen. Sie stoppt das Aufnahmegerät, tritt an dem Polizisten vorbei auf den Flur, wo die Kriminaltechnikerin Karin Munzinger durch den venezianischen Spiegel ins Vernehmungszimmer schaut.
    Â»Bingo«, sagt sie und tippt auf das Glas. »Das sind ohne jeden Zweifel Gregor Schmidts Fingerabdrücke auf Bergers Schuhen.«
    Â»Klasse.«
    Â»Kleine Fische.« Karin schiebt mit der Zungenspitze ihr Kaugummi in die rechte Backe.
    Â»Was ist mit der Jacke?«, fragt Judith.
    Â»Das dauert länger. Steht ja kein Name drin.«
    Es sind Schmidts Fingerabdrücke, es ist Wolfgang Bergers Jacke, denkt Judith, ich weiß das einfach. Es wäre geradezu aberwitzig, wenn es anders wäre. Sie spürt das Adrenalin, das vertraute Prickeln, mit dem ihr Körper auf den ersten Durchbruch reagiert. Wieder wählt sie Mannis Handynummer, wieder erreicht sie ihn nicht. Sie schiebt ihr Mobiltelefon in dieHosentasche. Der Zettel mit der Adresse, die Ralf Meuser am Mittag für sie recherchiert hat, knistert. Sie hat den Anruf vor sich hergeschoben, dann nur zu gern vergessen, als ihr Bruder anrief. Sie versucht sich vorzustellen, wo Edgar jetzt ist: allein in einer der Bars oder – was wahrscheinlicher ist – in seinem Hotelzimmer. Vielleicht telefoniert er mit seiner Verlobten, erzählt ihr von seiner Kommissarinnen-Schwester, die heute wie damals keine Zeit für ihn hat. Sagt so etwas wie gute Nacht, mein Schatz, und die Verlobte wird sagen, dass sie ihn liebt und immer für ihn da ist, und dabei so aussehen wie auf dem Foto, das Edgar Judith gezeigt hat: froh und zuversichtlich, als könne sie nichts jemals aus der Bahn werfen oder gar zerbrechen, auch wenn das natürlich nicht stimmt. Judith tastet nach dem Zettel in ihrer Hosentasche, vergewissert sich, dass er noch da ist. Die Frau, deren Telefonnummer darauf notiert ist, steht wie Judith auf der dunkleren Seite des Lebens. Eine Zeit lang hatten sie sogar gemeinsame Pläne, bis sich ihre Wege dann doch wieder trennten.
    Â»Er muss über die Gleise gekommen sein oder dem S-Bahn-Fahrer schon am Wartepunkt aufgelauert haben.« Karin Munzinger mustert den Obdachlosen, der nun zum Tatverdächtigen geworden ist, immer noch. »Wir sind jetzt fertig mit den Überwachungskameras aus der S-Bahn. Es ist ausgeschlossen, dass jemand bis zum Wartepunkt mitgefahren und dort ausgestiegen ist. Auch an der Haltestelle Gewerbepark war die S-Bahn schon leer.«
    Â»Und

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