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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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das sagst du erst jetzt?«
    Â»Das Ergebnis liegt seit exakt zweieinhalb Stunden vor. Morgen früh werden wir natürlich als Erstes berichten.«
    Â»Ja, natürlich. Tut mir leid.«
    Â»Es ist der Fall«, sagt die Kriminaltechnikerin nachsichtig. »Ein Doppelmord. Ein drittes Opfer, das mit dem Tod ringt. Die ganzen Überstunden wegen Weihnachten. Wir drehen ja momentan alle am Rad.«
    Â»Auf der Polizeischule hab ich gedacht, dass es einfach ist.
    Indizien. Beweise. Motiv und so weiter. Immer schön der Reihe nach. Doch je länger ich dabei bin, desto mehr beginne ich zu zweifeln. Nicht nur daran, dass es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt gibt. Auch daran, ob es uns selbst mit den gründlichsten Ermittlungen überhaupt jemals gelingen kann, die Wahrheit eines Verbrechens zu verstehen. Es ist, wie wenn man in die Sterne schaut. Man versucht sich das Universum vorzustellen, Unendlichkeit, aber je mehr man es versucht, desto weniger kann man es.«
    Karin nickt. »Und irgendwann denkst du an Kündigung.«
    Â»Ja. Aber was kommt dann?«
    Â»Ich geh jetzt öfter mal ins Fitnessstudio, hetz mich auf so ’nem dussligen Laufband ab«, sagt Karin nach einer Weile. »Du glaubst gar nicht, wie viele Leute das machen. Frühmorgens. Nachts. Zu jeder Tageszeit.«
    Â»Und?«
    Â»Es hilft. Ich jedenfalls kann danach immer schlafen.«
    Â»Vielleicht probier ich’s mal«, sagt Judith und geht zurück in den Vernehmungsraum, setzt sich dem Obdachlosen Gregor Schmidt gegenüber und mustert ihn.
    Â»Ihre Fingerabdrücke sind am Tatort«, eröffnet sie die nächste Vernehmungsrunde. »Das sieht nicht gut aus für Sie.«
    Der Mann windet sich auf seinem Stuhl, leugnet, jammert, beteuert seine Unschuld. Sie treibt ihn weiter in die Enge, schweigt, wenn es sein muss, wiederholt ihre Fragen. Es ist ein Ritual, das sie beinahe blind beherrscht, ein zähes Ringen um jeden Millimeter. Ein Teil ihres Bewusstseins wundert sich über Manni dabei, der ganz gegen seine sonstige Gewohnheit unerreichbar ist, denkt an ihren Bruder, an ihre vom Nikotin verklebten Lungen und an Menschen, die vor ihren eigenen Leben davonrennen und dabei auf Fernsehmonitore starren oder sich von der Musik ihrer MP3-Player in Scheinwelten tragen lassen, so wie sie selbst von Patti Smith oder Manfred Mann.
    Ja, er sei am Tatort gewesen, gibt der Obdachlose schließlich zu. Er habe den Toten gesehen, die Jacke lag neben ihm, erwollte auch die Schuhe, aber dann sei plötzlich ein Mann über die Gleise gekommen, und er sei weggelaufen. Die Jacke habe er mitgenommen, aber nur die Jacke, keinen Rucksack, und er kenne den Toten auch nicht, habe ihn niemals gesehen, auch nicht früher in Paderborn. »Hey, Lady, bitte, ich hab den nicht umgebracht, das müssen Sie mir glauben.«
    Judith schüttelt den Kopf. »Wo ist der Rucksack?«
    Der Obdachlose zieht gurgelnd Rotz hoch, funkelt sie an. »Ich hab keinen Rucksack, hey, Lady, bitte, kann ich jetzt gehen?«
    Â»Warum haben Sie Wolfgang Berger getötet?«
    Â»Da war noch ein Mann, als ich kam, so ein reicher Pinkel im dunklen Mantel, fragen Sie doch den.«
    Â»Machen Sie sich nicht lächerlich.«
    Â»Ehrlich, so war’s, der hatte ein Messer, lief an mir vorbei die Böschung runter.«
    Â»Ich mag keine Märchen.« Judith verschränkt die Arme vor der Brust, lehnt sich zurück, betrachtet den Obdachlosen. Er ist ein Dieb, er weiß mehr, als er zugibt, trotzdem wird sie immer unsicherer, ob seine Festnahme tatsächlich ein Durchbruch ist.
    Â»Luigi Baldi«, sagt sie müde. »Inhaber der Pizzeria Rimini. Kennen Sie den?«
    Â»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich will einen Anwalt! Das ist mein Recht«, jammert Gregor Schmidt. »Ich hab nichts gemacht.«
    Judith steht auf, bedeutet dem Polizeimeister, den Obdachlosen abzuführen. »Morgen«, sagt sie zu ihm. Ȇberlegen Sie sich bis dahin, ob Sie mir nicht doch mehr zu sagen haben.«
    Sie sieht die Panik in seinen Augen, Panik vor einer Nacht allein auf Entzug, ein Umstand, der für sie arbeiten wird. Sie kann es plötzlich nicht mehr ertragen. Die Ungerechtigkeit, die einen Gregor Schmidt auf immer zum Verlierer macht, und auch ihn selbst erträgt sie nicht, die Art, wie er jede Verantwortung für das, was ihm widerfährt, weit von sich schiebt.
    Sie muss nach Hause, schlafen, vergessen. Sie

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