Nacht ohne Schatten
Welt, in der Frauen frei sein würden, frei von Angst. Frei von dem Zwang, sich für ein bisschen Liebe zu verbiegen.
»Ich sage Frau Offinger jetzt, dass Sie da sind.« Die junge Frau vom Empfang steckt den Kopf ins Wartezimmer.
»Ich komme gleich mit.« Judith folgt ihr durch den Flur.
»Warten Sie hier.« Am Ende des Flurs öffnet die junge Frau eine Tür. Sie will erst allein mit der Frauen-für-Frauen-Chefin reden. Aber es ist schon zu spät. Cornelia Offinger erkennt Judith augenblicklich. Sie sitzt hinter einem Schreibtisch und telefoniert gerade, beendet das Gespräch aber abrupt.
»Lass uns allein, Valerie«, sagt sie, ohne den Blick von Judith zu wenden.
Schritt für Schritt geht Judith auf Cornelia Offinger zu. Deren einst hellblondes Haar ist weià geworden, sie trägt es kürzer geschnitten als früher, was sie jung aussehen lässt und ihre hohen Wangenknochen hervorragend zur Geltung bringt.
»Du«, sagt sie schlieÃlich, als Judith direkt vor ihr steht. Sagt es resigniert und trotzdem so, als habe sie immer damit gerechnet, dass die Frau, die vor mehr als fünfzehn Jahren aus ihrem Leben verschwand, eines Tages wiederkehrt.
»Hallo, Cora.« Judiths Mund ist plötzlich trocken. Es gibt keinen Aschenbecher in diesem Büro, wird ihr bewusst, hat Cora mit dem Rauchen aufgehört? Die Gründerin der Organisation Frauen für Frauen setzt sich eine Designerbrille auf die Nase und lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück. Sie macht keinerlei Anstalten, Judith einen Platz anzubieten, noch gibt sie etwas von den Gefühlen preis, die sie angesichts ihrer einstigen Freundin und Mitbewohnerin eigentlich haben müsste.
»Es geht um einen Fall«, sagt Judith und legt das Foto der Komapatientin vor Cornelia Offinger auf den Tisch. »Ich brauche deine Hilfe. Ich muss herausfinden, wer diese Frau ist, ich vermute, sie wurde aus Russland hierher verschleppt und zur Prostitution gezwungen. Vielleicht hat sie sich bei euch oder einer anderen Hilfsorganisation gemeldet. Vielleicht arbeitet jemand von euch mit einer Zwangsprostituierten, die sie kennen könnte.«
»Das Bild war in der Zeitung.«
»Ja. Ich muss wissen, wer sie ist.«
»Du weiÃt sehr gut, dass ich dir unsere Kartei nicht zeigen kann.«
»Es reicht mir vorerst, wenn du mir sagst, ob du diese Frau kennst, oder mir verrätst, wer sie kennen könnte.«
Cornelia Offinger lacht. Ein bitteres Lachen. »Du hast dich nicht verändert, Judith. Siehst nur, was du brauchst, kommst und gehst, wie es dir passt, ohne Rücksicht auf Verluste.«
»Es geht hier nicht um mich.« Judith fühlt, wie ihre Wangen zu brennen beginnen. Die alten Gespenster greifen nach ihr. Sie lässt die Menschen im Stich, sie kann nicht genügen, sie kommt zu spät, egal, wie sehr sie sich bemüht. Sie zwingt sich zur Ruhe, zeigt auf das Foto. »Sie ist noch sehr jung, wahrscheinlich nicht einmal achtzehn. Sie ist vergewaltigt worden. Wir haben sie in einem Keller gefunden. Es gab kein Tageslicht dort, nur eine Lichterkette mit Herzchen über einer Matratze. Sie besitzt keine StraÃenkleidung, aber jede Menge Reizwäsche. Jetzt liegt sie im Sterben. Ich will die Schweine finden, die dafür verantwortlich sind.«
»Von den geschätzten 500 000 ausländischen Frauen, die nach Westeuropa geschleust und dazu gezwungen werden, sich zu prostituieren, erkennt und registriert der deutsche Staat gerade mal um die 1000 pro Jahr offiziell als Opfer von Menschenhandel. Wovon wiederum die meisten abgeschoben werden oder freiwillig ausreisen, bevor es zu einem Prozess gegen ihre Peiniger kommen kann. Oder sie sagen nicht aus, weil sie zu viel Angst haben. Oder sie werden getötet«, sagt Judiths einstige Freundin kühl. »Als Polizistin müsstest du diese Statistik eigentlich kennen und also wissen, dass es so gut wie nie gelingt, Menschenhändlern das Handwerk zu legen.«
»Es gibt Opferschutzprogramme.«
»Deren Finanzierung ewig wackelig ist und von denen im letzten Jahr überhaupt nur ein Viertel der registrierten Opfer profitierten. Und wiederum nur die Hälfte von denen durfte zumindest bis zum Prozess in Deutschland bleiben.«
»Ich weià das alles, Cora, glaub mir, ich weià das sehr gut.« Judith zieht sich einen Stuhl vor den Schreibtisch und setzt sich, was ihre einstige Freundin ohne Protest geschehen
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