Nacht ohne Schatten
das Internetcafé verlässt. Er hofft inständig, dass ihn niemals jemand als Hardy L. identifizieren wird, bevor er die Chance hat, dessen Existenz zu erläutern, ganz besonders nicht Sonja oder Judith Krieger.
* * *
»Bitte, Frau Krieger, nur einen Moment.«
Sie erkennt die Stimme sofort. Tief. Warm. Nah. Viel zu nah. Als habe er sich aus dem Nichts materialisiert, steht der Journalist Gero Sanders vor ihr. Er muss hier in der Eingangshalle des Polizeipräsidiums auf sie gewartet haben, wird Judith klar. Ein Mann in Jeans und Norwegerpullover, den sie unter anderen Umständen durchaus sympathisch finden würde, die dunklen Augen intelligent und aufmerksam.
»Sie telefonieren wohl nicht gern?«
»Ich hatte bislang keine Zeit, Sie zurückzurufen.«
Er lächelt, ehrlich amüsiert. »Sie sind im Stress, und ich gehe Ihnen auf die Nerven.«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«
»Bitte. Einen Kaffee.« Er hebt die Hand, um Judiths Protest zu stoppen. »Kein Interview, wenn Sie es nicht wollen. Nur eine Chance für mich, Sie umzustimmen.«
Sie schüttelt den Kopf, läuft Richtung Hinterausgang. Sanders heftet sich an ihre Fersen.
»Endstation. Ab hier dürfen nur Polizisten.« Sie entriegelt die Glastür, durch die es zum Fuhrpark geht, stellt sich dem Reporter in den Weg. Er stoppt abrupt, sieht ihr in die Augen. »Vielleicht sind Sie ja an einem Handel interessiert. Ich helfe Ihnen und Sie helfen mir.«
»Danke. Ich komme sehr gut alleine klar.«
»Ich recherchiere sehr gründlich.«
Sie drückt die Glastür ins Schloss, winkt einen stummen AbschiedsgruÃ, vermeidet es, sich noch einmal nach Sanders umzudrehen.
Im Auto legt sie wieder die Brightest-Diamond-CD auf. Sie regelt die Lautstärke hoch, fädelt sich in den Verkehr Richtung Zoobrücke ein. Sie sind an diesem Vormittag ein Stück weitergekommen, ein winziges Stück. Mehrere Obdachlose haben unabhängig voneinander ausgesagt, Gregor Schmidt sei häufig im Stadtteil Ehrenfeld unterwegs, und Schmidts Blick, als Judith ihn damit konfrontierte, hat ihr verraten, dass das stimmt. Auch wenn er weiterhin schweigt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie etwas finden: den Unterschlupf Schmidts, den Rucksack des S-Bahn-Fahrers und darin hoffentlich einen Hinweis auf seinen Mörder. Ein Mörder, der laut Gregor Schmidt einen dunklen Wollmantel trug. Oder doch Gregor Schmidt ist. Oder womöglich eine Frau?
Judith lenkt den Wagen auf die Brückenauffahrt. Sie selbst hat von Anfang an behauptet, die junge Frau im Keller sei eine Zwangsprostituierte. Wolfgang Berger mochte Pornos und war Kunde im Bordell. Luigi Baldi war mit Handschellen eines Erotikversands gefesselt. Warum hat sie Zweifel, dass die Konzentration aufs Milieu richtig ist? Sie streicht sich eine Locke aus dem Gesicht, wechselt auf die Mittelspur. Ein böser Zuhälter. Eine arme Nutte. Ein gutherziger Freier, der dem bösen Zuhälter â oder der Nutte â in die Quere kommt. Wie verführerisch diese Theorie ist, weil sie ein Motiv zugrunde legt, das plausibel erscheint. Aber der Mord an Berger war kein Klischee, seine Ursache war Hass, möglicherweise gepaart mit Verzweiflung, und der Flammentod Luigi Baldis wurde mit äuÃerster Grausamkeit inszeniert.
Da ist noch mehr. Da ist noch etwas anderes. Sie stellen noch immer nicht die richtigen Fragen.
We were sparkling,
singt die Sängerin My Brightest Diamond, die die KünstlerinNada so gerne hört. Wir trugen unsere Schätze hinunter zum Fluss, hängten sie in einen silbernen Baum, sahen dem Wind zu. Ich erinnere mich an dich. Judith stoppt die CD, kann die Sehnsucht darin auf einmal nicht mehr ertragen, die überwältigende Kraft, weil in jedem der Töne beides mitschwingt: Glück und Verlust. Leben und Tod. Flirrende Leichtigkeit, die so jäh zerbrechen kann. Hat Nada diese CD wirklich zur Inspiration gehört? Klingt so die Lieblingsmusik einer glücklichen und erfolgreichen Frau?
Da ist noch mehr. Wir sehen etwas nicht. Wieder ist Judith sicher, dass es so ist. Bislang haben sie vor allem untersucht, ob jemand aus den umliegenden Gebäuden den Mord und die Brandstiftung beobachtet hat. Vielleicht war es jedoch Wolfgang Berger selbst, der etwas beobachten wollte, schlieÃlich hatte er sich vor seiner Ermordung auf die S 5 versetzen lassen. Was sofort eine weitere Frage
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