Nacht ohne Schatten
die die Frau ins Krankenhaus brachte und den Verein Frauen für Frauen benachrichtigte. Nicht zum ersten Mal, wie die Frauen-für-Frauen-Chefin Cornelia Offinger Ekaterina erklärte. Ekaterina unterdrückt einen Seufzer. Cornelia Offinger war freundlich zu ihr, ihre Sorge, dass diese Ines oder Kommissarin Krieger sie angeschwärzt haben könnten, war unberechtigt. Dennoch ist die Frauen-für-Frauen-Leiterin genau die Sorte Frau, der gegenüber sich Ekaterina augenblicklich unterlegen und falsch gekleidet fühlt, eine Frau, die ihr vor Augen führt, dass sie fremd in Deutschland ist und wohl auch immer fremd bleiben wird.
Eine Windbö droht Ekaterina die Pelzmütze vom Kopf zu heben. Sie drückt sie fester aufs Haar, überquert die Aachener StraÃe. Regelrecht zurückgeschreckt ist sie, als sie die 53 -Jährige untersuchte. Offene, eitrige Striemen klafften auf ihrem Rücken, Hämatome und Narben, eindeutig das Ergebnis wiederholter Misshandlungen. Warum spricht sie nicht, hatte sie Cornelia Offinger nach der Untersuchung gefragt. Sie hat zu viel Angst, lautete die Antwort. Die Polizisten werden Anzeige gegen ihren Mann erstatten, weil sie durch das neue Gewaltschutzgesetz dazu verpflichtet sind, sie selbst wird das wohl auch diesmal nicht schaffen. Cornelia Offinger zuckte die Schultern. Morgen oder übermorgen kommt ihr Mann mit einem groÃen BlumenstrauÃ, das kennen wir schon.
Ekaterina erreicht das Ostasiatische Museum und entspannt sich ein wenig, als sie mehrere freie Tische an der Glasfront der Cafeteria entdeckt. Sie wählt den Tisch mit dem besten Blick auf den Aachener Weiher, bestellt Mineralwasser und einen Teller Erbseneintopf. Es ist schön hier. Friedlich und kultiviert. Die Unterhaltungen der anderen Cafébesucher sind nur leisesGemurmel, die lärmenden HauptverkehrsstraÃen kann man nicht einmal sehen. Wir bauen die Frauen ein paar Tage auf, dann gehen sie zurück nach Hause, und alles beginnt von vorn, hat Cornelia Offinger gesagt. Trotzdem sind Ihre rechtsmedizinischen Gutachten von groÃem Wert. Denn falls es doch zum Prozess kommt, können wir damit beweisen, dass dem werten Gatten nicht nur einmal aus Versehen die Hand ausgerutscht ist.
Ich muss cool bleiben, denkt Ekaterina. Rational. Ich muss meine Erinnerungen in Schach halten, auch wenn sie sich immer weniger beherrschen lassen wollen. Vor der Fensterfront gleitet ein Schwarm träger Enten vorbei, ohne auf die Sonnenstrahlen zu reagieren, die für Sekunden durch die Wolken brechen und auf der trüben Wasseroberfläche unwirklich grüne Akzente setzen. Ekaterina versucht, sich ausschlieÃlich auf die Enten zu konzentrieren, gönnt sich noch ein Stück Kirschkuchen und eine Tasse Kaffee. Du darfst keine Angst haben, Katja. Sie winkt der Kellnerin, zahlt und zieht sich die Lippen nach. Nein, sie wird sich nicht von der Vergangenheit einholen lassen. Sie ist ein freier Mensch in einem freien Land. Sie ist eine Wissenschaftlerin, Doktor der Medizin.
Die Sonne ist hinter den Wolken verschwunden, als Ekaterina das Ufer des Aachener Weihers erreicht. Sie nestelt die Tüte mit den Brotresten aus ihrer Handtasche. Augenblicklich gleiten die Schwäne auf sie zu. Da sieht sie die Frau am gegenüberliegenden Ufer. GroÃ. Dünn. Elegant. Sie steht auf der Steintreppe und blickt aufs Wasser, seltsam starr. Ekaterina lässt die restlichen Brotbrocken fallen und beginnt zu laufen. Ihre FüÃe protestieren, weil sie nicht widerstehen konnte und die neuen Wildlederstiefeletten angezogen hat, die exakt denselben Fliederton haben wie ihr Pullover. Wieder bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und blendet sie. Blinzelnd, eine Hand über die Augen haltend, hastet Ekaterina weiter, doch als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, ist die Frau verschwunden.
Wut packt Ekaterina. Auf dem Weg zur Arbeit hatte sie gezögert, den Weg am Kanal langzugehen, regelrecht zwingen musste sie sich dazu, aber alles war still und leer. Hat sie sich die morgendliche Begegnung mit Ines etwa nur eingebildet, war die Frau, die sie gerade gesehen hat, nichts weiter als ein Trugbild? Sie sieht sich um. Ufer. Spazierwege. Wiesen. Wenn das gerade keine Erscheinung war, muss diese Ines hier irgendwo sein.
Die Sonne verschwindet wieder, die Steinstufen am Weiher sind immer noch leer. Doch dort oben am Biergarten steht jetzt eine Frau und sieht über das Wasser zum
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