Nacht ohne Schatten
Polizei gegangen, statt an Coras Seite als Anwältin für Frauen zu streiten? Weil sie es cool fand, eine der ersten Frauen bei der Kriminalpolizei zu sein, der zumindest theoretisch der Weg nach ganz oben offenstand? Sie hat sich mit der Knarre in der Hand tatsächlich cool gefühlt, cool und stark. Sie wollte sich nicht mehr mit Paragrafen beschäftigen, wollte lieber praktische Arbeit, wirklich etwas bewegen. Und ja, gewissermaÃen hat Cora recht: Auf eine Art war es erträglicher, sich bei den Ermittlungen in der Mordkommission mit immer neuen Täterprofilen und Motiven und Brutalitäten zu beschäftigen, als Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr mit Opfern zu tun zuhaben, die nur aus einem einzigen Grund misshandelt werden: weil sie weiblich sind.
Judith dreht sich eine Zigarette, raucht in tiefen Zügen, lässt noch einmal die Traumbilder Revue passieren, dann den gestrigen Ermittlungstag. Die Traurigkeit darüber, dass Millstätt sie übergangen hat, ist ausgeblieben, auch die Wut. Weitaus aufrührender war die Begegnung mit Cora. Wird ihre einstige Freundin ihr helfen? Kann sie das überhaupt, oder ist die Hoffnung, das Schicksal der jungen sterbenden Frau aus dem Keller mithilfe der Kölner Frauenhilfsorganisationen zu ergründen, von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Judith trinkt einen Schluck Milchkaffee. Am Abend hat sie den Narren aus dem Tarotdeck gezogen, ein Symbol für Risikobereitschaft, ein Symbol für den Neubeginn. Wann verwandelt sich Mut in Leichtsinn?
Sie zwingt ihre Gedanken zurück zur Soko S-Bahn. Sie müssen die Tatwaffe identifizieren, sie müssen Bergers Rucksack finden, und irgendetwas ist mit der russischen Rechtsmedizinerin los. Trotz ihres absurden Modegeschmacks darf man Ekaterina Petrowa keinesfalls unterschätzen. Sie ist klug und versteht ihren Job, jedenfalls dessen fachliche Seite. Aber es ist ihr schwergefallen, über Russland zu sprechen, ihre Heimat, und am Schluss des Gesprächs wirkte sie regelrecht verstört. Warum? Weil sie von einer Frau als möglicher Täterin gesprochen haben? Entnervt drückt Judith ihre Zigarette aus. Sie kommen viel zu langsam voran, aus jedem Fortschritt erwachsen sofort neue Rätsel, und zugleich hat sie das ungute Gefühl, dass sie noch nicht einmal angefangen haben, die richtigen Fragen zu stellen. Irgendein Puzzlestein fehlt, und auch wenn es fast so erscheint, als läge er offen vor ihr, kann sie ihn nicht sehen.
Die nächste Stunde verbringt sie damit, eine Liste aller offenen Fragen zu erstellen. Sie trinkt Grapefruitsaft dabei und hört die neue K-T-Tunstall-CD, so laut, wie es gerade geht, ohne die Nachbarn zu stören. Um 6 Uhr öffnet sie wieder einmalden Briefumschlag mit dem Gutschein. Ein Tag Schulung ist inklusive, damit du gleich allein springen kannst, nicht erst im Tandem, hat der Polizeimeister, der ihr den Gutschein bei der Weihnachtsfeier überreichte, begeistert ins Mikrofon geschrien. Judith wählt die Telefonnummer der Fallschirmschule Happy-Fly, die auf dem Gutschein steht, wartet, bis sich der Anrufbeantworter anschaltet, nennt ihre Handynummer und bittet um Rückruf zwecks Terminabsprache.
Sie hofft inständig, dass die Fallschirmschule Pleite gemacht hat oder aus irgendeinem anderen Grund nie zurückrufen wird. Denn wenn sie das doch tut, muss Judith sich schon bald in vier Kilometer Höhe aus einem Flugzeug stürzen, um dann im freien Fall mit über zweihundert Stundenkilometer Geschwindigkeit eine Minute lang ungebremst der Erde entgegenzurasen, bevor sich ihr Fallschirm öffnet und sie vielleicht â vielleicht aber auch nicht â unbeschadet zurück zur Erde transportiert, falls sie nicht vorher einem Herzinfarkt erliegt.
Judith geht ins Bad und wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie denkt an den Narren, der mit weit offenen Augen in die Zukunft schaut und lächelt. Sie putzt sich die Zähne, kämmt sich und entdeckt dabei zwei graue Haare, die sie ausreiÃt. Früher hat sie immer behauptet, in Würde alt werden zu wollen, statt sich dem Schönheits- und Jugendwahn zu unterwerfen und graue Haare schamhaft zu überfärben. Jetzt, wenige Monate vor ihrem vierzigsten Geburtstag, ist sie plötzlich nicht mehr so sicher. Die verschwitzte Kleidung des Vortags liegt noch auf dem Badezimmerboden. Sie stopft sie in den Wäschekorb, bevor sie ins Schlafzimmer
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