Nacht ohne Schatten
Ostasiatischen Museum hinüber, in dem Ekaterina gerade noch saÃ. Ekaterina flucht, als sie mit dem Absatz im nassen Gras einsinkt. Sie reiÃt sich los und erreicht die Frau, die tatsächlich Ines ist.
»Was machen Sie hier?«
Ines zuckt zusammen, dann streckt sie die Hand aus. Sie ist sehr blass. Ihr Haar ist seidig und fein, so wie Ekaterinas eigenes Haar trotz aller Kurpackungen niemals werden wird. Ihre Augen glänzen fiebrig. Sie trägt keine Jacke, wird Ekaterina bewusst.
»Doktor Petrowa, wie schön.«
»Sie lauern mir auf.«
Die groà gewachsene Frau scheint in sich zusammenzusinken wie ein ausgeschimpftes Kind. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Ich gehe hier öfter spazieren.«
Das Weinen von Ekaterinas Mutter war gar kein richtiges Weinen. Es war mehr ein Jammern, erstickt in den Kissen, heiser wie das Ãchzen der Birken in einer nächtlichen Brise. Bleib hier, Katja, bleib in der Gegenwart. Ekaterina räuspert sich, zwingt sich, die Schärfe aus ihrer Stimme zu nehmen.
»Wie heiÃen Sie? Warum suchen Sie ständig meine Nähe und laufen dann wieder weg?«
»Mein Mann ⦠er darf nicht wissen, dass ich zu Ihnen komme.«
»Hat er Sie wieder geschlagen? Oder gewürgt?« Ekaterinabetrachtet Inesâ Hals, doch falls sich dort weitere Hämatome und Quetschungen befinden, sind sie unter dem Rollkragen des dezenten, beigefarbenen Angorapullovers verborgen.
»Es ist nicht so, wie Sie denken. Er ist nicht nur schlecht.«
»Warum tragen Sie keine Jacke? Es ist doch kalt geworden. Mussten Sie weglaufen? Was ist passiert?«
»Es liegt an mir«, flüstert Ines. »Ich war mal wer. Jung. Schön. Reich. Eine gute Partie. Jetzt bin ich nur noch eine einzige Enttäuschung.«
»Und das gibt Ihrem Mann das Recht, Sie zu misshandeln?«
»Ich wollte Malerin sein, aber ich war nicht gut genug.« Ines spricht einfach weiter, als habe sie Ekaterina gar nicht gehört. »Mein Mann hat mir geholfen, eine Galerie zu eröffnen. Aber ich hab auch das nicht hinbekommen. Die ganzen Zahlen. Die ganzen Kontakte. Empfänge. Messen. Ständig mussten wir repräsentieren. Und alle sind so erfolgreich und schnell. Mein Mann kann das gut, aber für mich war das einfach zu viel, und dann habe ich diese Migräne.«
Migräne. Luxus. Seifenoper. Keine der Frauen aus Ekaterinas Kindheit hatte jemals Migräne, höchstens Kopf- oder Menstruationsschmerzen, und die waren längst kein Grund, sich ins Bett zu legen.
»Als es mit der Galerie vorbei war, hat er mir ein Haus in Frankreich geschenkt. Zur Erholung. Aber ich habe mich dort nie wohlgefühlt. Jetzt fährt er von Zeit zu Zeit allein dorthin, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Er schlägt Sie. Er vergewaltigt Sie. Er hat versucht, Sie umzubringen.« Ekaterina kann das Geplapper nicht mehr ertragen.
Langsam, mechanisch schüttelt Ines den Kopf. »Neulich, als ich zu Ihnen kam ⦠Das war nicht so, ich war nur sehr durcheinander. Ich hatte ihn provoziert, ihm eine Szene gemacht, weil er erst am frühen Morgen nach Hause gekommen war.«
»Woher stammte das Blut auf Ihrer Unterwäsche?«
Ines erstarrt.
»Stammte es von ihm, haben Sie ihn verletzt?«
Schweigen.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mir nicht vertrauen. Sie müssen mir Ihren Namen sagen. Anzeige erstatten. Und vor allen Dingen müssen Sie Ihren Mann verlassen.«
Keine Antwort.
»Sie müssen ihn verlassen«, wiederholt Ekaterina und atmet scharf ein, weil sie erneut das Weinen ihrer Mutter zu hören glaubt, so überdeutlich, als lebte sie noch auf der Insel im weiÃen Meer.
»Das kann ich nicht«, sagt Ines sehr leise. »Das lässt er nicht zu.«
* * *
Jemand beobachtet ihn. Manni wirbelt herum, scannt die freudlose Fassade des heruntergekommenen Apartmenthauses, in dem er soeben eine weitere russische Prostituierte befragt hat, die beim Anblick seines Dienstausweises sehr schlechte Laune bekam. Steht sie am Fenster und sieht ihm nach? Die blickdichten Gardinen ihres Etablissements sind nach wie vor zugezogen, so wie es in dem Miniapartment roch, hat sie sie noch niemals bewegt, um zu lüften. Aufmerksam, bemüht, jedes Detail seiner Umgebung wahrzunehmen, lässt Manni seinen Blick weiterschweifen. Auch an den Fenstern der anderen Wohnungen kann er niemanden erkennen. Der Eingangsbereich des
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