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Nacht ohne Schatten

Nacht ohne Schatten

Titel: Nacht ohne Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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passend – ganz in Weiß gekleidet, was aber überhaupt nicht an Krankenhauskluft erinnert und ihr zu einem Pferdeschwanz gebundenes Haar wie Gold leuchten lässt.
    Manni hält ihr den Strauß hin. Sie küsst ihn zum Dank vorsichtigauf die Wange. Senkt dann die Nase über die Blüten und schnuppert. »Mmh. Wow, sind die schön.«
    Sie verschwindet noch einmal, kommt mit einer Vase zurück, die sie neben dem Buddha platziert.
    Â»Du liest englische Bücher?«
    Â»Sturmhöhe
 – ein Klassiker der englischen Literatur. Die allerschönste Liebesgeschichte. Tragisch natürlich.« Sie hält inne, wird tatsächlich ein bisschen rot.
    Â»Hab ich noch nie gehört.«
    Â»Der wilde Heathcliff, die schöne Catherine, das raue, einsame Yorkshire-Moor. Erstmals veröffentlicht wurde der Roman 1847 unter männlichem Pseudonym, denn dass sich eine 29 -jährige, ledige Frau, eine Pfarrerstochter zumal, die kaum je aus dem Haus gekommen ist, eine solch poetische und kraftvolle Geschichte ausdenken konnte, hielt niemand für möglich.« Sonja holt Atem. »Aber so war es, und leider blieb
Wuthering Heights
ihr einziger Roman, denn ein Jahr nach seiner Veröffentlichung ist sie gestorben.«
    Â»Du kennst dich aus.«
    Â»Ich schreibe gerade eine Seminararbeit über die Bronte-Schwestern.«
    Â»Ich dachte, du arbeitest hier.«
    Sonja lacht. »Tue ich ja auch. Der Salon ist mein Brotjob. Das Studium ist die Kür, ein alter Traum, den ich mir jetzt nebenbei erfülle.«
    Â»Du studierst Englisch.«
    Â»Anglistik und Sport, wenn du es genau wissen willst.«
    Â»Ja, will ich. Unbedingt.«
    Â»Beim Essen.« Sonja streift einen dunkelroten Anorak über. »Ich hab uns nebenan einen Tisch reserviert.«
    Das Restaurant ist eine Eckkneipe, rustikal, aber gemütlich.
    Â»Tut mir echt leid wegen neulich«, sagt Manni, nachdem sie Apfelschorle und Salat bestellt haben, Sonja mit Schafskäse, er mit einem Steak.
    Â»Das hoffe ich doch.« Ihre Augen sind Bernstein und einen Moment lang sehr, sehr nah, so lange bis Mannis verdammtes Handy zu fiedeln beginnt.
    Er würgt seine Mutter ab, vertröstet sie auf später, fühlt dabei Sonjas Blick auf sich. Nachdenklich. Amüsiert.
    Â»Mein Vater ist vor ein paar Monaten gestorben«, sagt Manni.
    Â»Das tut mir leid. Standet ihr euch nah?«
    Â»Nein, eher nicht. Eigentlich war er nicht mal besonders nett zu meiner Mutter und mir.« Eine grandiose Untertreibung.
    Â»Das macht es oft schwerer, Abschied zu nehmen«, sagt Sonja.
    Â»Wie meinst du das?«
    Â»Na ja, wenn man sich geliebt fühlte, dann tut ein Abschied zwar weh, doch man weiß immerhin, wie schön es mal war. Aber wenn man nicht geliebt wurde, sich immer nur bemüht hat – das ist wie eine Sucht. Man kann nicht einfach damit aufhören.«
    Â»Du meinst, weil man die Selbstachtung verloren hat?«
    Sonja nickt, und bevor Manni nachfragen kann, woher sie das so genau weiß, serviert der Kellner das Essen. Sie stürzt sich mit beinahe kindlicher Gier auf ihren Salat. Erzählt ihm nebenbei noch mehr über Catherine und Heathcliff. Im Gegenzug gibt Manni ihr ein paar Einblicke ins KK 11 , selbstverständlich ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Und dann reden sie über Karate und Yoga und bestellen Espresso, und auf einmal ist Manni so froh wie schon lange nicht mehr.
    Â»Hey«, sagt er, als sie wieder vor Sonjas Massagesalon stehen. »Das war schön. Sehen wir uns heute Abend?« Er zieht sie an sich. »Gib uns noch eine Chance, ja?«
    Erst boxt sie ihn in die Rippen, dann küsst sie ihn auf den Mund.
    Â»Du dummer Kerl, was glaubst du, was das hier ist?«
    * * *
    Der Tag, an dem Ekaterinas Kindheit endete, begann wie ein ganz normaler Tag. Ein Tag im Februar, dem kältesten Monat auf den Solowetzkij-Inseln. Der Wind, der hier fast niemals ruht, griff mühelos durch die Fenster und Wände der Holzkaten. Im Herbst waren Ekaterinas Eltern in das alte Pförtnerhaus gezogen, das sich einsam an die gewaltigen Steinmauern der Klosteranlage drückte. Sie sagten zu Ekaterina, dass es schön wäre, weil sie endlich mehr Platz hätten. Aber Ekaterina fand es nicht schön, denn die Stimmen der Insel waren hier lauter, eindringlicher. Das ewige Wispern, das sie hörte und doch nicht hören durfte. Das Klagen der Birken, das sie nicht verstand. Sie

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