Nacht über Algier
die einen Tyrannen losgeworden seien, und von seiner Überzeugung, daß das Land seinen einstigen Zauber wiedererlangen werde ... Als ich nichts erwidere, fragt er, ob ich noch an der Strippe sei. Ich versichere ihm, daß ich noch dranhänge wie ein Gehenkter vor seinem letzten Atemzug. Er findet den Vergleich unangemessen und schiebt ihn, ich sehe es vor mir, mit einem zuckersüßen Lächeln beiseite. Der Hörer liegt schwer in meiner Hand. Am liebsten würde ich auflegen und weit weglaufen, irgendwohin, wo mich niemand erreichen kann. Ghali Saad kommt endlich zum Punkt. Als erstes weist er mich darauf hin, wie sehr er sich an den Türen der großen Manitus die Finger wundklopfen mußte, um sich Gehör zu verschaffen, und wie er nach überzeugenden Plädoyers, unterstützt von unanfechtbaren Gutachten und ergreifenden Erklärungen, schließlich doch erreicht habe, was er wollte: Lino ist frei!
Mein Lieutenant hat seine Klärgrube gegen eine Klinik auf den Höhen von Algier eingetauscht.
Ich bin wie der Blitz durch die Stadt dorthin gefegt. Der Portier der Klinik hat sofort die Schranke gehoben, als er meine quietschenden Reifen hörte. Ein zuvorkommender Arzt erklärt mir, daß Lino am frühen Morgen in einem unbeschreiblichen Zustand eingeliefert worden sei und sich im komfortabelsten Zimmer der Einrichtung und in besten Händen befinde. Ich will ihn sehen, um mich selbst davon zu überzeugen. Er übergibt mich einer Krankenschwester von so hünenhafter Gestalt, daß sie sich nur auf die Zehenspitzen zu stellen brauchte, um die Decke zu berühren.
Mit ihr durchquere ich eine ganze Reihe blitzsauberer Korridore. Ab und zu humpelt ein Kranker unter dem wachsamen Auge eines Doktors, der sich wie ein Gefängnisaufseher gebärdet, an uns vorbei. Lino ist nicht auf seinem Zimmer. Ein Krankenpfleger hat ihn in einem Rollstuhl nach draußen gefahren, damit er frische Luft tanken kann, so teilt man uns mit. Wir kehren um, die Schwester führt mich in den Garten. Lino sitzt unter einem Baum, eine Decke über den Beinen, mit der Miene eines Todeskandidaten auf dem elektrischen Stuhl. Die Arme ruhen schlaff auf den Knien, der Rücken ist unter der Last des in einem geheimen Kerker erlittenen Alptraums gebeugt, er starrt auf ein Stück Rasen und rührt sich nicht. Sein Gesicht scheint für immer von der Niedertracht der Menschen gezeichnet. Der schöne Junge von Bab El-Oued ist nur noch ein klappriges Wrack. Ich hätte ihn nicht erkannt, wenn ich allein gekommen wäre.
»Wir bringen ihn ganz schnell wieder auf die Beine«, verspricht mir die Krankenschwester.
Ich drehe auf dem Absatz um, will so schnell wie möglich von diesem Ort verschwinden.
»Möchten Sie ihn gar nicht sprechen, Kommissar?«
Ich blicke sie an.
»Nicht in diesem Zustand«, antworte ich mit zugeschnürter Kehle. »Das würde er mir übelnehmen.«
Sie nickt.
»Ja, ich verstehe«, seufzt sie.
Zu Hause schnappe ich mir Mina und fahre mit ihr zu Monique. Ich will mich nicht in meinem Zimmer verschanzen und mir wieder und wieder Linos Anblick ins Gedächtnis rufen. In einer solchen Situation mit mir allein zu sein würde mir den Rest geben.
Monique empfängt uns auf ihre gewohnt kumpelhafte Art. Sie ist hocherfreut, mich wiederzusehen, und hört gar nicht auf, dummes Zeug zu quatschen, in der Hoffnung, so den bitteren Schleier wegzublasen, der mir das Gesicht verhüllt. Ich habe versucht anzubeißen, aber in den trüben Wassern meines Kummers habe ich ihren Köder nicht zu fassen gekriegt. Mohand beobachtet mich von seinem Winkel aus. Er ahnt, daß ich eine tickende Zeitbombe bin, und kommt mir lieber nicht zu nahe. Angesichts meiner Niedergeschlagenheit gehen Monique die Anekdoten bald aus. Das Abendessen nehmen wir in beklemmendem Schweigen ein. Gegen zehn bittet Mina darum, aufzubrechen. Sie ist enttäuscht von mir. Unsere Gastgeber waren guter Dinge, als wir kamen, und wir haben ihnen die Laune verdorben.
Ich bin bereits im Treppenhaus, da stößt Mohand plötzlich hervor: »Du hast mir immer noch nicht die Geschichte von dem Totengräber erzählt, der Höhlenforscher werden wollte.«
Ich mustere ihn einen Moment, bevor ich unwirsch brumme: »Du weißt es nicht?«
»Nein«, entgegnet er.
»Er hat es sich anders überlegt.«
Mit diesen Worten rase ich die Treppen runter und habe das Gefühl, mich in meinem Kummer aufzulösen.
Am nächsten Morgen erfahre ich, daß Nedjma nach Frankfurt abgeflogen ist und mir nichts, aber auch gar nichts
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