Nacht über Algier
sechsundvierzig Jahre alt, fünf Bälger, zwei sind von zu Hause ausgerissen. Seine Nachbarn beschreiben ihn als einen korrekten, unauffälligen Typen, der keinen Ärger macht. Seit über fünf Stunden hockt er in seinem Zimmer hinter verschlossener Tür. Anfangs hat er gebrüllt, man solle ihn in Ruhe lassen. Jetzt ist er still. Ich glaube, er ist am Ende seiner Kräfte.«
»In welchem Zustand ist er?«
»Ich habe einen Blick durch das Schlüsselloch geworfen. Er verliert viel Blut.«
»Ich vermute, daß wir die Tür nicht eintreten können.«
»Er hat geschworen, daß er sich dann aus dem Fenster stürzt.«
»Vielleicht blufft er ja nur.«
»Vielleicht, aber wer würde das schon überprüfen wollen?«
Ich drehe mich zu einem Fenster mit zersprungenen Scheiben um, betrachte die Butangasflasche in einem zur Küche umgemodelten Nebenraum, die verbeulten Töpfe und die dicken, modrigen Flecken an den Wänden. Das Elend scheint sich in dieser Wohnung wie zu Hause zu fühlen. Serdj fordert mich auf, ihm in einen gräßlichen Trockenraum zu folgen, damit die Kinder ihn nicht hören können.
»Er arbeitete als Auslieferer in einem staatlichen Betrieb. Bei einem Einsatz hatte er einen Autounfall und hat dabei ein Bein verloren. Seit acht Jahren schafft er es nicht, eine ordentliche Regelung mit der Sozialversicherung seines Ministeriums zu finden. Er bekommt noch nicht einmal eine vorläufige Rente. Von heute auf morgen haben sie ihm den Lohn gestrichen. Den Nachbarn zufolge hat er alles probiert, ist mehrmals in Hungerstreik getreten, ohne Erfolg. Vor ein paar Tagen hat er eine Räumungsklage erhalten. Das war zuviel. Heute morgen hat er mit seiner Frau und seinen Kindern gesprochen und ihnen gesagt, daß ihm nichts anderes übrigbleibe, als die Angelegenheit vor den lieben Gott zu bringen, wenn ihn hier auf Erden niemand hören will. Er hat sich in sein Zimmer zurückgezogen und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Als wir eintrafen, war er schon fast verblutet. Wir haben versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber er weigert sich, uns anzuhören.«
»Hat er etwas eingenommen?«
»Seine Frau schwört, daß er nie getrunken und nie ein Schlafmittel angerührt hat. Ein frommer Mann.«
»Habt ihr einen Krankenwagen gerufen?«
»Ist unterwegs.«
»Also, dann werde ich jetzt mit ihm sprechen. Und wenn es nur darum geht, ihn bis zum Eintreffen der Krankenträger wach zu halten.«
Plötzlich ein dumpfer Schlag. Wir rennen auf den Balkon. Der Unglückliche hat sich schließlich doch in die Tiefe gestürzt. Drei Stockwerke weiter unten liegt er, die Arme über Kreuz, mit dem Gesicht zum Boden, die verbogene Prothese neben sich.
Ich habe in der Nacht kein Auge zugetan.
Am Morgen war ich noch vor dem Wachtposten im Büro. Geschlagene zehn Minuten bin ich in den Gängen herumgeirrt, weiß Gott, wem oder was auf der Spur. Als die ersten Mitarbeiter aufkreuzten, habe ich mich in mein Kabuff verzogen, zweimal hinter mir abgeschlossen und versucht, mich zu entspannen, indem ich an nichts dachte. Dann kam Baya, angemalt wie ein chinesischer Drache. Sie hat irgendwas gesagt, das ich nicht richtig verstanden habe, und hat sich schließlich angesichts meiner finsteren Miene wieder verkrümelt. Nach einem unendlich langen Atemstillstand tauche ich wieder auf und versuche Boden unter die Füßen zu bekommen. Nichts zu machen. Der verrenkte Körper des Unglücklichen holt mich erneut ein. Ich schließe die Augen und versinke abermals im Sumpf meiner fixen Ideen.
Dahinein klingelt das Telefon.
»Brahim?« Es ist der Direx.
»Herr Direktor?«
»Hast du eine Minute Zeit?«
»Selbstverständlich.«
»Dann beweg deine alten Knochen in den dritten Stock, aber dalli!«
Wenn die Pferde mit dem Direx durchgehen, dann ist auch eine Windmühle nicht weit. Ich habe mich nicht getäuscht. Haj Thobane höchstpersönlich ist bei ihm zu Besuch, und das heißt: ein unerschöpflicher Vorrat an Schmiergeldern und Vitamin B.
Haj Thobane stellt in Groß-Algier eine einflußreiche Persönlichkeit dar. Eine Legende. Wenn man ihn reden hört, war er es, der de Gaulle einen Tritt in den Hintern versetzt hat. Derartige Mythen sind in meinem Land so zählebig, daß ihnen nicht einmal ein Nashorn ans Leder gehen würde. Doch obwohl seine Heldentaten mehr als unwahrscheinlich sind, hat Haj Thobane zumindest zwei Verdienste: eins auf dem Gebiet der Philosophie und eins auf dem der Alchemie. Erstens bringt er die berühmte Darwinsche Theorie zu
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