Nacht über Algier
Serdj, mich aufzuklären. Der Inspektor versucht den Vorfall herunterzuspielen. Ich schlage mit der Faust auf den Tisch, da hißt er die weiße Flagge. Als hätte er nur darauf gewartet, endlich loszuwerden, was ihm schwer im Magen liegt, fängt er an, mir auseinanderzusetzen, wie seltsam Lino sich in letzter Zeit aufführt, genauer, seitdem er sich in eine Dame aus der High Society verknallt hat.
»Er hat mich um Geld gebeten«, erzählt er. »Ich geb's dir morgen zurück, hat er versprochen. Ich renn ihm immer noch deswegen hinterher ... Zwei Tage später beschwatzt er Baya und zieht ihr die Hälfte ihres Lohns aus der Tasche. Lino kann nicht mehr zwischen einem Kollegen und einem Kreditgeber unterscheiden. Er haut jeden x-beliebigen an. Innerhalb von drei Wochen fordert die halbe Zentrale Knete von ihm zurück, aber das scheint ihn nicht abzuschrecken . Diese Dame ist nichts für seinen Geldbeutel. Ich habe gedacht, daß er es selbst merken und die Finger davon lassen würde. Aber Lino macht auf Vogel Strauß. Er findet immer mehr Geschmack an Luxus und Extravaganz. Die Kollegen machen sich seinetwegen große Sorgen. Sie sind der Überzeugung, daß er, wenn er es so weitertreibt, mit Sicherheit Mist bauen wird, und zwar ganz gewaltigen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Deshalb wollte ich mit ihm reden, in der Hoffnung, ihn zur Vernunft zu bringen.
Das Ergebnis haben Sie ja eben selbst mitgekriegt. Lino ist nicht mehr ganz bei Trost.«
Ich stütze mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, um über die Angelegenheit nachzudenken, Baya beobachtet indessen meine gerunzelte Stirn. Nachdem ich einen Moment überlegt habe, sage ich zu Serdj: »Was gibt euch das Recht zu behaupten, daß Lino sich von einer falschen Jungfrau ausnehmen läßt? Kennt ihr die Dame?«
Serdj plustert die Backen auf. »Eigentlich nicht.«
»Und warum dann diese ganze Aufregung?«
»Es ist das allgemeine Gefühl in der Zentrale, Kommissar. Lino lebt über seine Verhältnisse. Mit dem Rhythmus, den ihm die Dame aufdrückt, kann er nicht mithalten, er kommt völlig außer Puste. Von morgens bis abends steht er unter Strom. Das ist nicht normal.«
»Aber doch auch kein Grund, gleich Alarm zu schlagen«, wage ich einzuwenden.
»Da bin ich aber anderer Meinung«, beharrt Serdj. »Lino verliert den Boden unter den Füßen. Ich kenne ihn.«
Mit einer Handbewegung bitte ich den Inspektor, ruhig Blut zu bewahren. »Mein lieber Serdj, begreifst du denn nicht, daß unser Lino eine etwas verspätete Pubertätskrise durchmacht? Ist doch sonnenklar: Er ist verliebt, das ist alles .«
»Meinen Sie?«
»Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock.« Serdj bleibt skeptisch.
»Die Liebe ist eine himmlische Ungereimtheit, ein gewaltiger Aufruhr, eine wundervolle Katastrophe. Und Lino steckt mittendrin. Er taucht in eine andere Welt ein, kapierst du? Er entdeckt sich selbst, er wird sich seiner Bedeutung bewußt und fängt über dieses unverhoffte Glück total zu spinnen an. So wie alle Verliebten seit Adam und Eva.«
»Das kommt etwas plötzlich, Kommissar. Es liegt was in der Luft, und Lino stellt sich einfach dumm an.«
»So ist Liebe auf den ersten Blick nun mal, es ist, als ob der Blitz eingeschlagen hätte. Du hast keine Chance, den Schlag abzufangen. Und du kannst nichts dagegen machen.«
»Liebe auf den ersten Blick?« fragt Serdj ungläubig, denn selbstverständlich weiß er nicht, was das ist, da er mit Siebzehn an ein Mädchen verheiratet wurde, das er überhaupt nicht kannte, wie es in konservativen Familien so üblich ist.
Und auf einmal ist mir ganz seltsam zumute.
Liebe auf den ersten Blick!
Und dann fange ich an zu erzählen: »Ich war auch einmal auf den ersten Blick verliebt. Das ist schlimmer als ein Sonnenstich. Ich erinnere mich genau. Das Land hatte gerade die Unabhängigkeit erlangt, und Algier lieferte sich ein wahres Freudengemetzel. Wir lachten und tanzten wie besessen und besoffen uns zwischen zwei Lynchmorden nach Strich und Faden, wir wurden sozusagen noch einmal geboren, aber diesmal mit der Geburtszange. Es war unerträglich und verblüffend zugleich. Und in diesem ganzen Delirium, diesen schreienden Farben, war da dieser Vorortbahnhof, grau wie eine verlorene Insel von Schiffbrüchigen. Ein schweigender Bahnhof. Andere, die weniger Glück hatten, waren dabei, das Land in Richtung Abgrund zu verlassen. Und inmitten der auf ihren Bündeln hockenden Familien, der starren Blicke und der Schatten des Schweigens saß sie
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