Nacht über Algier
Streich spielen!
»Natürlich! Monsieur Cherif Wadah, der afrikanische Che ...«
»Cherif, meinetwegen. Aber der Che steht mir wohl nicht zu. Setzen Sie sich, Kommissar. Hier gibt es kein Protokoll und kein heuchlerisches Salam aleikum. Wir sind unter Freunden, und das ist gut so.«
»Ich bin ein bißchen verwirrt.«
»Macht nichts. Ganz unter uns, ich beklage mich nicht. Wenn ich mich zurückgezogen habe, dann um die Zeit und die Kraft zu haben, mir ohne Leibwächter und ohne Verbündete ins Gesicht zu schauen. Man findet nur zu sich selbst, wenn es einem gelingt, sich den Blicken der anderen zu entziehen. Schmeicheleien sind genauso gefährlich wie Feindseligkeiten. Hier, in meinem Winkel, bekomme ich nicht mit, was die Leute von mir denken. Ich bin allein mit mir und muß mich mir rückhaltlos stellen. Für jemanden wie mich, der erst übertriebene Wertschätzung genossen hat und dann unvorstellbare Gemeinheiten über sich ergehen lassen mußte, gebietet es sich von selbst, auf eine Menge von Fragen allein eine Antwort zu finden. Die Welt ist nicht mehr das, was sie mal war; die Menschen haben sich von so manchem verabschiedet. Die Zweifel sind immer präsent. Bin ich noch derselbe wie früher? Was haben wir von unseren Versprechungen eingelöst, wohin haben wir das Land geführt? Warum läßt uns der Weckruf am Morgen hochschrecken, statt uns zu ermuntern, den Tag zu erobern, so wie früher? Wo haben wir versagt? Denn wir haben ganz eindeutig versagt. Heute ist es fast eine Schande, ein Zai'm gewesen zu sein. Man braucht sich nur anzusehen, wie unsere Helden sich aufführen. Sie haben die Flagge der Revolution eingeholt, damit sie ihr eigenes Fähnchen besser nach dem Wind hängen können. Tag für Tag beleidigen sie das Gedächtnis der Toten, und jeden Abend legen sie sich nieder wie die Hunde auf den Fußabtreter der Schwüre. Wenn ich daran denke, wird mir kotzübel.«
»Das ist übrigens auch Gegenstand des Buches, an dem er gerade schreibt«, meint Allouche mir mitteilen zu müssen. »Er wird mit ihnen abrechnen, mit diesen Lackaffen.«
»Wenn es ums Abrechnen geht, schreibt der Revolutionär nicht, sondern schießt.«
Der Che sagt das in gelassenem Ton, aber entschieden genug, um den Professor in seine Schranken zu verweisen. Plötzlich ist die Atmosphäre wie von einer bleiernen Schicht überzogen. Allouche schluckt ein paarmal, aber der Mandelkrümel bleibt ihm im Halse stecken.
Der alte Kämpfer ist wütend, ohne es zu zeigen. Er prüft ausgiebig seine Fingernägel, der Mund besteht nur noch aus zwei Strichen, der Blick ist undurchdringlich.
Dann, als ob nichts wäre, wendet er sich wieder an mich. »Was sagten Sie noch mal, Kommissar?«
»Ich habe Ihnen zugehört, Monsieur.«
Er runzelt die Stirn. Nach endlosem Nachdenken hebt er den Kopf und gesteht: »Ich habe den Faden verloren. Worum ging es?«
»Um Standpunkte, Monsieur.«
Seine Unterlippe bewegt sich. Er erhebt sich und reicht mir die Hand. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Monsieur Brahim Llob.«
»Ganz meinerseits, Monsieur.«
»Ich schätze Ihre aufrechte Haltung.«
»Danke, Monsieur.«
Ohne den Professor noch eines Blickes zu würdigen, verschwindet er zwischen seinen Rosen. Joe ist bereits da, um uns hinauszubegleiten.
Während wir uns im Auto vom Hof entfernen, sehe ich, wie aschfahl Allouche ist.
»Ich habe nichts begriffen«, sage ich zu ihm.
»Er ist unberechenbar«, gesteht er mir. »Mal ist er wunderbar, und dann wieder verschanzt er sich hinter seinen Zweideutigkeiten und traut niemandem über den Weg.«
Ich warte ab, bis ich ein Schlagloch umfahren habe, dann brumme ich: »Warum hast du mich zu ihm geführt?«
»Ich hatte gehört, daß deine Ermittlungen gegen den Namenlosen nicht vorankommen. Neulich, bei einem ganz banalen Gespräch, habe ich dem Cherif die Geschichte von unserem Mann erzählt. Wir sprachen über die Mißgriffe des Rais, und so kamen wir auch auf die Präsidentenamnestie, die Tausende Ganoven auf die Straße entlassen hat. Ich habe gesagt, daß ich diese Maßnahme mißbillige, und als Beispiel den Namenlosen angeführt. Si Cherif hörte aufmerksam zu und vertraute mir an, daß ihm die Geschichte dieses Jungen nicht unbekannt sei.«
»Inwiefern?«
»Das weiß ich nicht. Er wollte uns heute mehr darüber berichten.«
»Und du bist ins Fettnäpfchen getreten.«
»Tut mir leid.«
Ich kurbele das Fenster hoch, stelle das Radio an und spreche kein Wort mehr mit ihm.
11
»Ich
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