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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Fabrik, die ich jetzt leite. Vom Leben in den Slums habe ich nicht die geringste Ahnung. Und Sie?«
    »Viel weiß ich auch nicht, aber ich kann mir denken, daß die Armen gute Gründe haben, wenn sie spielen, stehlen und ihren Körper verkaufen. Sie sind nicht einfach nur dumm. Sie sind die Opfer eines ungerechten Systems.«
    »Sie sind anscheinend ‚ne Art Kommunistin«, sagte Mrs. Lenehan ohne jeden Anflug von Feindseligkeit.
    »Sozialistin«, gab Margaret zurück.
    »Schön«, antwortete Mrs. Lenehan zu Margarets Überraschung. »Später können Sie Ihre Meinung immer noch ändern – das ist immer so, wenn man älter wird –, aber wenn man von vornherein keine Ideale hat, was gibt‘s da noch zu verbessern? Ich bin keine Zynikerin. Ich glaube vielmehr, daß man aus Erfahrungen lernen, aber dabei an seinen Idealen festhalten sollte. Ich frage mich, warum ich Ihnen eine solche Predigt halte. Muß wohl daran liegen, daß ich heute vierzig geworden bin.«
    »Herzlichen Glückwunsch!« Gemeinhin konnte Margaret Leute, die behaupteten, sie würde ihre Meinung ändern, wenn sie erst etwas älter wäre, nicht besonders leiden: Das war ein herablassendes Argument und wurde meist von jenen ins Feld geführt, die in einer Diskussion unterlegen waren, dies aber keinesfalls zugeben wollten. Mrs. Lenehan fiel jedoch nicht in diese Kategorie. »Wie sehen Ihre Ideale denn aus?« fragte sie.
    »Ganz einfach, ich will gute Schuhe herstellen.« Mrs. Lenehan lächelte selbstironisch. »Vielleicht kein großartiges Ideal, aber es liegt mir sehr am Herzen. Ich führe ein angenehmes Leben, habe ein schönes Haus, meine Söhne haben alles, was sie brauchen, und ich kann ein Vermögen für meine Garderobe ausgeben. Und warum das alles? Weil ich gute Schuhe herstelle. Würde ich Pappschuhe produzieren, käme ich mir vor wie ein Dieb. Dann wär‘ ich genauso ein Gauner wie Frankie.«
    »Ein ziemlich sozialistischer Standpunkt«, sagte Margaret lächelnd.
    »Eigentlich habe ich nur die Grundsätze meines Vaters übernommen«, meinte Mrs. Lenehan nachdenklich. »Wo haben Sie Ihre Ideale her? Von Ihrem Vater bestimmt nicht, das ist mir klar.«
    Margaret errötete. »Haben Sie auch schon gehört, was beim Abendessen passiert ist?«
    »Ich war dabei.«
    »Ich muß von meinen Eltern weg.«
    »Und was hält Sie dann noch?«
    »Ich bin erst neunzehn.«
    Mrs. Lenehan reagierte mit leichtem Spott. »Na und? Andere reißen schon mit zehn von zu Hause aus!«
    »Ich hab‘s ja versucht«, sagte Margaret. »Aber es lief schief, und zum Schluß hat mich die Polizei aufgelesen.«
    »Sie werfen zu schnell die Flinte ins Korn.«
    Ich muß ihr begreiflich machen, daß ich nicht deshalb gescheitert bin, weil es mir an Mut fehlte, dachte Margaret. »Ich habe kein Geld und keine Ausbildung. Ich bin nie in den Genuß einer richtigen Erziehung gekommen. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte.«
    »Sie sind auf dem Weg nach Amerika, meine Liebe! Die meisten sind dort mit weit weniger angekommen als Sie, und mancher von ihnen hat es mittlerweile zum Millionär gebracht. Sie können lesen und schreiben, Sie haben gute Umgangsformen, sind intelligent und hübsch … Da kriegen Sie leicht einen Job. Auch ich würde Sie einstellen.«
    Margaret hatte das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen. Sie war drauf und dran gewesen, eine echte Antipathie gegen Mrs. Lenehan und deren so gar nicht mitfühlende Art zu entwickeln. Erst jetzt ging ihr auf, daß ihr eine Chance geboten wurde. »Würden Sie das wirklich tun?« fragte sie. »Würden Sie mir wirklich eine Stelle geben?«
    »Klar.«
    »Als was?«
    Mrs. Lenehan dachte einen Augenblick lang nach. »Ich würde Sie im Verkauf unterbringen: Briefe frankieren, Kaffee holen, Anrufe beantworten, freundlich zu den Kunden sein. Wenn Sie sich da bewähren, rücken Sie schnell zur Verkaufsassistentin auf.«
    »Und das heißt?«
    »Die gleiche Arbeit für mehr Geld.«
    Margaret kam das alles vor wie ein Märchen. »Du meine Güte«, sagte sie sehnsüchtig, »ein richtiger Job in einem richtigen Büro!«
    Mrs. Lenehan lachte. »Die meisten Leute halten es für reine Schinderei!«
    »Für mich wäre es aber ein echtes Abenteuer.«
    »Vielleicht am Anfang.«
    »Ist es Ihnen wirklich ernst damit?« fragte Margaret feierlich. »Würden Sie mir eine Arbeit geben, wenn ich in einer Woche bei Ihnen im Büro vorspräche?«
    Mrs. Lenehan schien überrascht. »Um Himmels willen, Sie meinen es wirklich ernst,

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