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Nacht über den Wassern

Titel: Nacht über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Treppenabsatz hielt er inne und blickte sich, soweit das möglich war, prüfend auf dem Boden des Flugdecks um. Niemand! Er machte schon Anstalten weiterzugehen, als zwei uniformierte Beine in Sichtweite kamen und in entgegengesetzter Richtung über den Teppich marschierten. Er duckte sich um die Ecke und spähte nach oben. Es war Mickey Finn, der Zweite Ingenieur, der Mann, der ihn beim letztenmal erwischt hatte. Er machte vor dem Ingenieurposten halt und drehte sich wieder um. Harry zog den Kopf ein. Wo wollte er hin? Ob er die Treppe hinuntergehen würde? Harry lauschte angestrengt. Die Schritte verliefen quer über das Flugdeck und verhallten schließlich. Harry entsann sich, Mickey beim letztenmal im Bug gesehen zu haben, wo er sich am Anker zu schaffen gemacht hatte. Tat er jetzt das gleiche wieder? Das Risiko mußte er eingehen.
    Auf leisen Sohlen ging er hinauf.
    Sobald er hoch genug war, um etwas zu sehen, spähte er nach vom. Es sah ganz so aus, als sollte er mit seiner Vermutung recht behalten: Die Luke stand offen, und von Mickey war weit und breit nichts zu sehen. Harry ersparte es sich, genauer nachzusehen, eilte statt dessen quer über das Flugdeck und trat durch die Tür am rückwärtigen Ende in den Gang, der zu den Laderäumen führte. Leise zog er die Tür hinter sich zu und holte tief Atem.
    Beim letztenmal hatte er den Frachtraum auf Steuerbord durchsucht, diesmal ging er nach backbord.
    Auf den ersten Blick sah er, daß ihm das Glück hold war: In der Mitte stand ein riesiger Übersee-Schrankkoffer aus grünem und goldenem Leder mit glänzenden Messingbeschlägen. Der mußte Lady Oxenford gehören! Er besah sich das Schildchen: kein Name, aber als Adresse »The Manor, Oxenford, Berkshire«.
    »Volltreffer«, murmelte er leise.
    Der Koffer hatte nur ein einziges einfaches Schloß, das er mit der Klinge seines Klappmessers knackte.
    Außer dem Schloß besaß der Koffer noch sechs Messingverschlüsse, die ohne Schlüssel funktionierten. Harry öffnete sie der Reihe nach.
    Der Schrankkoffer war so gemacht, daß er in einer Einzelkabine an Bord eines Passagierschiffs als Garderobenschrank dienen konnte. Harry kippte ihn auf die Seite und öffnete ihn. Er war in zwei geräumige Schränke aufgeteilt. Auf der einen Seite befand sich eine Garderobenstange mit Kleidern und Mänteln und einem kleinen Schuhfach darunter, auf der anderen Seite waren sechs Schubladen eingelassen.
    Harry durchsuchte erst die Schubladen aus leichtem, mit Leder bezogenem Holz, die innen mit Samt ausgeschlagen waren. Lady Oxenford besaß Seidenblusen, Kaschmirpullover, Spitzenunterwäsche und Gürtel aus Krokodilleder.
    Das obere Ende des Koffers auf der anderen Seite ließ sich wie ein Deckel öffnen, so daß man die Garderobenstange herausziehen konnte, um leichter an die Kleider zu gelangen. Harry fuhr mit beiden Händen an den Kleidungsstücken entlang und tastete den Koffer innen von allen Seiten ab.
    Schließlich zog er noch das Schuhfach auf: nichts als Schuhe.
    Er war völlig geknickt. Er hatte nie auch nur einen Moment daran gezweifelt, daß sie ihren Schmuck dabeihatte. Sollte er so danebengetippt haben?
    Aber es war zu früh, um die Flinte ins Korn zu werfen.
    Sein erster Impuls war, nach dem Rest des Oxenfordschen Gepäcks zu suchen, aber er ließ sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. Hätte ich Juwelen von unschätzbarem Wert im Reisegepäck unterzubringen, dachte er, dann würde ich sie nach Möglichkeit verbergen. Und in einem großen Schrankkoffer läßt sich eher ein Versteck finden als in einem normalen Koffer.
    Er beschloß, noch einmal gründlich zu suchen.
    Er begann mit der Seite, auf der sich die Kleider befanden, steckte einen Arm in den Koffer und legte den anderen außen herum, um die Dicke der Seiten abschätzen zu können: Lag sie über der Norm, so konnte dies auf ein Geheimfach deuten. Aber er fand nichts Außergewöhnliches. Er wandte sich der anderen Seite zu und zog sämtliche Schubladen heraus…
    Und fand das Versteck.
    Sein Herzschlag beschleunigte sich.
    Ein großer brauner Umschlag und ein Lederetui waren innen an die Rückseite des Koffers geklebt worden.
    »Amateure«, sagte er und schüttelte den Kopf.
    Mit wachsender Erregung löste er die Klebestreifen, und der Umschlag löste sich zuerst. Er fühlte sich an, als enthielte er nichts weiter als Papiere, trotzdem riß Harry ihn auf. Es waren etwa fünfzig Bogen schweren Papiers, die auf einer Seite kunstvoll bedruckt waren. Er

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