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Nacht über der Prärie

Nacht über der Prärie

Titel: Nacht über der Prärie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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wann? Der einzige, der den Schlüssel hatte und die Klasse in der Mittagspause betreten konnte, war Harold Booth… Aber Harold ist doch kein Dieb!«
    »Seid ihr damals vernommen worden?«
    »Von uns Schülern ist keiner vernommen worden.«
    »Keiner?«
    Bob und Erika schauten sich mit großen, erschreckten Augen an.
    »O Himmel, Bob, wenn… wenn Joe auch noch unschuldig gewesen wäre?!«
    »Ich frage euch als Zeugen, und ihr antwortet unter Eid. Bleibt ihr bei euren Aussagen?«
    »Wir lügen nicht«, sagte Erika.
    Der Richter wandte sich an Mrs. Holland.
    »Können Sie sich bitte noch an den Tag erinnern, an dem Joe King das Geld gestohlen haben soll?«
    »Ich kann mich an den Tag erinnern, denn auch ich war in jenem Jahr Lehrerin der 7. Klasse, und zwar für englische Literatur. Joe war mein schlechtester Schüler, weil er die englische Sprache nicht gebrauchen konnte oder nicht gebrauchen wollte. Aber das nur nebenbei.«
    »Mittags aßen Sie mit den Schülern im Schulspeisesaal?«
    »Das tat ich in jenem Jahr noch regelmäßig.«
    »Können Sie sich erinnern, ob Sie auch an jenem Tag im Speisesaal mit den Schülern aßen?«
    »Ja, eben mit der 7. Klasse zusammen.«
    »War Joe am Tisch?«
    »Natürlich aß er mit uns am Tisch im Speisesaal.«
    »Ist er irgendeinmal während des Essens weggegangen?«
    »Nein. Harold Booth kam und bat die Ordnerin Erika um den Klassenschlüssel. Sie ging mit ihm, um den Schlüssel aus dem Rektoratssekretariat zu holen, und kam dann wieder und aß fertig.«
    »Und Joe?«
    »Joe ist mit allen anderen Schülern zusammen aus dem Saal zur Stunde gegangen. Er hatte an diesem Tage keinen Tischdienst; den hatte er in der Woche vorher gehabt und dabei allerhand Unsinn angestellt, an den ich mich auch noch genau erinnere. Man könnte sagen, er kehrte die Teller ab und den Staub auf den Tisch, und er war dafür mit Nachsitzen bestraft worden.« Mrs. Holland seufzte über die begrenzten Einflußmöglichkeiten von Pädagogen. »Aber an besagtem Tag saß Joe mir am Tisch gegenüber – ich hatte ihn besonders im Auge –, und er ging dann mit allen anderen zusammen weg zur Stunde. Die Jungen und Mädchen der 7. Klasse hatten es eilig. Mister Teacock hatte die nächste Stunde in dieser Klasse, und er fing lieber ein paar Minuten früher als später an. Mister Teacock war ein sehr strenger Lehrer.«
    »Wann hat Joe King nun den Umschlag mit dem Geld zu seinem Platz in der Klasse geholt?«
    »Das kann nur geschehen sein, als die Schüler die Klasse betraten. Er muß vielleicht etwas schneller gelaufen sein als die anderen; er war ja immer schon groß gewachsen und hatte einen weiten, raschen Schritt.«
    »Könnte man die Vorgänge in diesen paar Minuten, in denen die Schüler zur 7. Klasse gingen und dort ihre Plätze einnahmen, nicht auch nach sieben Jahren noch zuverlässig rekonstruieren, Missis Holland? Die Aussagen von Bob und Erika liegen vor.«
    Über Teacocks Gesicht lief das konvulsivische Zucken, das nur langsam wieder abflauen wollte. Er legte die Hand über die Augen, um es möglichst zu verbergen.
    »Mister Teacock, die Klasse 7 saß damals zum Mittagessen im Schulspeisesaal, und Missis Holland saß mitten unter den Schülern. Da Joe King in der Woche vorher beim Tischdienst allerhand Unsinn angestellt hatte, beobachtete sie ihn aufmerksam.«
    »Ich erinnere mich«, erklärte Teacock aufatmend, »daß mir als Klassenlehrer die Streiche dieses Buben gemeldet worden waren. Er hätte einfach Hiebe verdient, aber der nützliche ›große Stock‹ war uns schon verboten worden, und vor anderen Strafen hatte er keinen Respekt, weil ihm das Ehrgefühl fehlte.«
    Joe wurde blaß.
    Der Richter überging die Bemerkung.
    »Und nun, Mister Teacock, wo setzen Ihre Beobachtungen und Erinnerungen ein? Befanden sich die Schüler schon an ihren Plätzen, als Sie zur Klasse kamen?«
    »Bedauerlicherweise nicht! Als ich mich näherte – fünf Minuten vor Beginn des Unterrichts –, drängte sich die Klasse als ein ungeordneter Haufen durch die Tür, statt ordentlich einer nach dem andern zu gehen. Ich kann mich daran sehr gut erinnern, denn dieser Vorgang sagte mir nicht zu. Dieser Joe King, die lange Latte, ragte aus dem Haufen mit Kopf und Schultern heraus. Er war ja auch bereits drei Jahre älter als die anderen.«
    »Als erste ging ich durch die Tür; ich war ja Ordnerin«, wiederholte Erika leise. »Dann folgte wohl Bob, und gleich hinter ihm kam Joe. Wir sahen aber auch schon Mister Teacock hinter

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