Nacht über Eden
Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Luke, erwarte nicht zu viel. Ich habe erst seit kurzem wieder Gefühl in den Beinen.«
Er lächelte nur zu mir herab, als wüßte er Dinge, die mir unbekannt waren. Ich preßte das pinkfarbene Band an meine Brust und wartete, bis er meine Gehhilfe aufgebaut und vor mich hingestellt hatte. Dann trat er zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich langte nach oben zum Griff der Gehhilfe. Dann zog und stemmte ich mich hoch, bis sich mein Körper langsam von der Bank löste. Meine Beine waren noch sehr schwach, doch langsam gelang es mir, sie durchzudrücken, bis ich schließlich stand. Meine Arme zitterten. Luke sah betroffen aus und kam einen Schritt auf mich zu.
»Nein, bleib stehen. Ich muß es allein schaffen.«
Eine dicke Wolke schob sich vor die Sonne, und ein Schatten legte sich wie ein großer, dunkler Vorhang über den Pavillon und trennte ihn von der umliegenden Welt ab. Obwohl es warm war, lief ein kalter Schauer über meinen Rücken. Ich bemühte mich, meinen Körper immer mehr aufzurichten, und dann konzentrierte ich mich ganz darauf, meinen rechten Fuß vorwärts zu schieben. Ich spürte, wie mein Gesicht sich vor Anstrengung verzerrte und meine Lippen sich aufeinanderpreßten.
»Mach einen Schritt, Annie«, drängte mich Luke.
Unter Aufbietung all meiner Willenskraft schob ich meinen Fuß Zentimeter um Zentimeter vorwärts, und schließlich hatte ich einen Schritt gemacht. Mein Herz klopfte vor Freude und Zuversicht. Dann versuchte ich dasselbe mit dem linken Fuß.
Es war, als bemühte ich mich, etwas zu ergreifen, das außer Reichweite war – wie bei jenem Spiel auf dem Jahrmarkt, bei dem man sich immer höher strecken mußte, bis die Fingerspitzen den goldenen Ring erreichten… Mein linker Fuß vollendete den Schritt. Die Räder der Gehhilfe machten eine Drehung. Ich öffnete die Augen. Die Wolke zog weiter, und der Pavillon lag wieder im strahlenden Sonnenlicht. Ich fühlte mich so erleichtert, als hätte man mir ein großes Gewicht von der Brust genommen. Ich war wieder frei, streifte die Fesseln von meinen Knöcheln und Knien! Meine Beine waren plötzlich wieder viel kräftiger – fast so wie früher!
Ich lächelte und bewegte abermals den rechten Fuß; und diesmal ging es schon schneller. Der linke Fuß folgte. Jeder der folgenden Schritte war schneller und größer. Mein Rücken wurde immer gerader, bis ich spürte, daß ich aus eigener Kraft stand…
»Ich stehe, Luke. Ich stehe. Ich stütze mich kaum mehr auf die Gehhilfe!«
»O Annie, ich wußte, daß du es schaffen würdest!«
Ich wurde sehr ernst und löste meine linke Hand von der Gehhilfe.
»Warte, Annie! Nicht zuviel auf einmal!«
»O Luke, ich kann es, ich muß es einfach versuchen!«
Er eilte auf mich zu, doch ich hob die Hand.
»Bitte, hilf mir nicht.«
»Wenn du hinfällst, bringt meine Mutter mich um.«
»Ich werde nicht fallen.«
Ich löste die rechte Hand von der Gehhilfe und schob sie von mir weg. Als sie weit genug von mir entfernt war, richtete ich mich vollständig auf und löste auch den Griff meiner linken Hand.
Ich stand aus eigener Kraft! Ganz allein! Meine Beine waren wieder kräftig genug, um mein Gewicht zu tragen. Luke streckte mir die Hand entgegen; sie war nur wenige Zentimeter entfernt…
»Annie.«
Ich schloß die Augen und öffnete sie dann rasch wieder.
Immer noch hielt ich das pinkfarbene Band in meiner linken Hand. Ohne weiter zu zögern, hob ich den rechten Fuß ein klein wenig und schob ihn einige Zentimeter vor. Dann folgte der linke. Über Lukes Gesicht glitt ein wunderbares, strahlendes Lächeln. Ich machte einen größeren Schritt und dann noch einen; dann aber gaben meine Beine unter der Anstrengung nach. Doch bevor ich zu Boden fallen konnte, umfingen Lukes Arme meine Taille, er hielt mich fest an sich gedrückt und küßte meine Wange.
»Annie, du hast es geschafft! Du hast es geschafft!«
Ich war so glücklich, daß auch ich begann, sein Gesicht zu küssen.
Und plötzlich trafen sich unsere Lippen. Die Berührung kam so schnell und unerwartet, daß sich keiner von uns beiden abwandte. Unsere Lippen verschmolzen zu einem leidenschaftlichen Kuß.
»Annie… ich…« Luke sah so schuldbewußt aus. Wir hatten den Schleier, der uns trennte, zerrissen, hatten die Grenze überschritten und das Verbot übertreten…
»Es ist in Ordnung. Ich bin glücklich, daß wir uns geküßt haben«, beharrte ich.
Er hielt mich immer noch fest
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