Nacht über Eden
Troys Augen, seine Nase und seinen Mund gut getroffen hatte. Ich war selbst von meinem Werk beeindruckt.
Die Arbeit hatte mir wieder Kraft gegeben, und so entschloß ich mich, das Abendessen im Eßzimmer einzunehmen.
Tante Fanny und Mrs. Avery brachten mich nach unten. Luke war noch immer nicht zurückgekommen. Ich hatte kaum Hunger, obwohl Roland mein Lieblingsessen, gebratenes Hühnchen mit Sherry-Sauce, gekocht hatte. Mein Blick war ständig auf die Tür gerichtet. Wie sehr sehnte ich mich danach, daß Luke hereinkommen würde! Aber er kam nicht.
Ich sah ein wenig mit Tante Fanny fern, doch ich war nur halb bei der Sache. Immer wieder lauschte ich auf ein Geräusch von der Eingangstür, doch die Stunden vergingen, und Luke kam nicht zurück… Schließlich ging ich enttäuscht zu Bett.
Ich verfiel in einen leichten Schlaf, aus dem ich ständig erschrocken auffuhr, weil ich ein Geräusch gehört zu haben glaubte. Kurz nach Mitternacht wachte ich erneut auf, weil ich Lukes Anwesenheit im Zimmer spürte; und als ich die Augen öffnete und aufsah, stand er wie erwartet im gleißenden Mondlicht neben meinem Bett und starrte auch mich herab.
»Luke, wo warst du die ganze Zeit? Warum bist du so lange weggeblieben?« fragte ich. Er sah nachdenklich zu mir herab.
»Ich war in dem Häuschen in den Willies, Annie, um dort in Ruhe nachzudenken«, sagte er leise.
»In dem Häuschen?« Ich richtete mich auf.
»Ich bin früher oft dorthin gegangen«, sagte er schnell. Dann runzelte er die Stirn. »Ist Drake noch hier?«
»Nein, er ist gegangen. Er ist böse auf mich, weil ich nicht zurück nach Farthy gehen wollte«, erklärte ich.
»Ich war noch nie so wütend auf ihn. Ich hatte gehofft, er würde zuschlagen, denn dann hätte ich wenigstens zurückschlagen können«, sagte Luke. In seinen Augen lag eine finstere Entschlossenheit. Dann wurde ihm scheinbar bewußt, wie hart und haßerfüllt er aussah, und sein Gesicht wurde wieder sanfter. »Ich nehme an, daß es mir im Blut liegt – und auch ihm. Meine Mutter hat mir oft von dem Temperament der Casteels erzählt.« Er setzte sich neben mich, und jenes Lächeln, das ich kannte und so sehr liebte, glitt über sein Gesicht. »Ich wünschte, ich wäre mehr wie du, Annie. Wir haben genau die gleichen Erbanlagen, Stonewall und Casteel, und doch bist du anders… so tolerant, geduldig und verständnisvoll.«
»O Luke, unser Blut ist nicht dasselbe. Tony hat nur Unsinn geredet, als wir Farthy verlassen haben. Mammi war keine Casteel.«
Sein Lächeln verschwand.
»Wie kannst du da so sicher sein? Tony ist so verwirrt…«
Ich erzählte ihm alles, was Tante Fanny mir erzählt hatte. Er hörte mir gespannt zu, dann nickte er, so als habe er erwartet, eines Tages so etwas zu hören.
»Du bist also nicht mein Cousin und außerdem mein Halbbruder. Du bist nur mein Halbbruder«, schloß ich.
»Annie«, sagte Luke und schüttelte seufzend den Kopf.
»Unser Leben ist so verworren, so durcheinander. Es kommt mir so vor, als wären wir beide dazu bestimmt, alles Leid dieser Welt zu tragen, ein Leid, das kein Ende hat…«
»Ich werde wieder gesund werden, Luke, ganz bestimmt«, versprach ich. Er sah so niedergeschlagen und müde aus. Dies war nicht der alte entschlossene Luke, der bereit war, nach den Gipfeln zu streben. Wenn er jetzt die Hoffnung verlor, was sollte ich dann tun?
»Ich meine nicht diese Art von Leiden, Annie.« Er betrachtete seine Hände, die in seinem Schoß lagen, und hob den Blick dann wieder. Selbst im Mondschein konnte ich erkennen, daß Tränen in seinen Augen glänzten. »Ich war wütend auf Drake, weil er so gemein zu dir war, aber ich war auch wütend, weil… weil er die Wahrheit gesagt hat, Annie.«
Luke ergriff meine Hand. »Ich kann nichts dafür, ich liebe dich, und ich liebe dich nicht so, wie ein Halbbruder seine Halbschwester lieben sollte. Ich liebe dich, wie ein Mann eine Frau liebt!«
»O Luke!« Die Wand, die uns bis jetzt getrennt hatte, zerfiel zu Staub. Mein Herz schien zerspringen zu wollen. Luke hatte die Worte laut ausgesprochen, die den Fluch herausfordern würden. Er hatte das Verbot übertreten und unserer Leidenschaft die Schleusen geöffnet, jener Leidenschaft, die sich so lange in uns aufgestaut und nur auf diesen Augenblick gewartet hatte…
Jetzt hatte sein Gesicht wieder jenen entschlossenen Ausdruck, den ich bei ihm gewohnt war. »Ich habe mich dort oben in den Willies entschlossen, herzukommen und alles auszusprechen,
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