Nacht über Eden
haben Sie deswegen so geschrien?« Sie preßte ihre Hand gegen die Brust.
»Bitte sagen Sie Tony, er möchte heraufkommen.«
»Hören Sie, Miß, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten ein Schläfchen halten, und Sie meinten…«
»Ich werde nicht schlafen, bevor ich nicht mit Tony gesprochen habe«, beharrte ich und verschränkte die Arme unter der Brust wie Tante Fanny, wenn sie unbedingt wollte, daß etwas nach ihrem Kopf ging. Ich konnte genauso dickköpfig sein wie sie!
»Wenn Sie sich so aufführen, werden Sie den Genesungsprozeß um Monate hinauszögern. Vielleicht werden Sie nie wieder richtig gesund.«
»Das ist mir gleich. Ich möchte Tony sprechen.«
»Gut, meinetwegen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte ich Tony kommen. Ich richtete mich im Bett auf.
»Was ist los, Annie?« fragte er. Seine Augen waren ganz unruhig vor Sorge.
»Tony, hier im Zimmer ist kein Telefon. Ich kann niemanden anrufen, und niemand kann mich erreichen. Im Krankenhaus war das ja am Anfang gut und schön. Ich konnte es verstehen, weil es mir so schlecht ging. Aber hier werde ich eine ganze Weile wohnen, und da muß ich unbedingt mein eigenes Telefon haben.«
Tonys Gesicht und Schultern entspannten sich. Er sah kurz zu Mrs. Broadfield hinüber, die neben ihm stand, steif und starr vor Mißbilligung.
»Oh, natürlich bekommst du ein Telefon. Zur richtigen Zeit.
Ich habe mit deinem Arzt darüber gesprochen, kurz bevor wir dich hierher gebracht haben. Er hat uns die Anweisung gegeben, dafür zu sorgen, daß du noch eine Weile Ruhe hast.
Dann kannst du langsam wieder mit dem normalen Leben anfangen. Übermorgen kommt der Arzt hier vorbei, um uns zu sagen, wie er die Fortschritte deiner Genesung einschätzt und wie wir weitermachen sollen.«
»Aber wenn ich mit jemandem wie Luke oder Drake oder mit irgendeinem anderen alten Freund reden würde, das wäre doch bestimmt…«
»Drake kommt dich heute besuchen, und wenn Luke später vorbeikommen möchte, dann kann er das gerne tun. Ich richte mich nach den Anordnungen des Arztes, Annie. Wenn ich das nicht täte und dir etwas passierte, müßte ich mir schreckliche Vorwürfe machen.«
Ich starrte ihn an. Er hatte die Hände ausgestreckt, fast als wollte er mich anflehen, ihm doch zu vertrauen. Ich schämte mich und wandte den Blick zum Fenster.
»Es tut mir leid. Ich wollte nur… Ich bin hier in einer fremden Umgebung, und…«
»Oh, bitte, sieh das hier nicht als fremde Umgebung an. Es ist doch das Haus deiner Vorfahren.«
»Das Haus meiner Vorfahren?«
»Deine Urgroßmutter hat hier gelebt, deine Großmutter hat hier gelebt, und deine Mutter hat hier gelebt. Du wirst dich bald richtig zu Hause fühlen. Das verspreche ich dir.«
»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal und ließ meinen Kopf wieder in die Kissen sinken. »Ich werde jetzt ein bißchen schlafen. Du kannst das Licht löschen.«
Er trat zu mir ans Bett und zog die Decke wieder zurecht.
»Schlaf gut.«
Nachdem er gegangen war, sah ich zur Tür und erblickte Mrs. Broadfield. Ihre Silhouette hob sich gegen das Licht des Korridors ab. Sie sah aus wie eine Aufseherin, die Wache hält.
Anscheinend wollte sie sichergehen, daß ich auch wirklich tat, was man mir aufgetragen hatte.
Ich war müde und fühlte mich mutlos und verlassen. Deshalb schloß ich die Augen und dachte an meine Mutter. Was hatte sie wohl gefühlt, als sie das erstemal den Kopf hier in diesem Bett auf das Kissen gelegt und die Augen geschlossen hatte?
Hatte sie an ihre eigene Mutter und deren Leben in Farthy gedacht? Gab es in der Vergangenheit ihrer Mutter ebenso viele Geheimnisse, wie es meinem Gefühl nach im Leben meiner Mutter gab? Es war, als hätte ich die Ängste meiner Mutter und meiner Großmutter geerbt.
Meine Großmutter Leigh hatte sich bestimmt auch sehr fremd und einsam gefühlt, als sie von ihrer Mutter, meiner Urgroßmutter Jillian, nach Farthy gebracht worden war. Sicher
– damals war alles hier in Farthy neuer und heller gewesen, die Farben leuchtender, die Teppiche und Vorhänge sauber und frisch, die Flure freundlich und die Fenster blank. Es war viel Personal im Haus gewesen, Gärtner, Haushälterinnen… Und doch war Leigh nach allem, was ich wußte, entwurzelt worden.
Sie war von ihrem Vater weggeholt worden, um in Farthinggale ein neues Leben anzufangen, und an seine Stelle war Tony Tatterton getreten – als ihr Stiefvater. Beim Einschlafen hatte sie dasselbe Windesbrausen
Weitere Kostenlose Bücher