Nacht über Eden
manchmal macht er mir Angst.« Nun war es heraus.
»Aber warum denn, Annie? Er ist ein harmloser älterer Mann, der das verloren hat, was in seinem Leben das Wichtigste war: seine Familie. Du solltest eher Mitleid mit ihm haben.«
»Das habe ich auch. Es ist nur… «
»Was ist nur? Du bekommst alles, was du möchtest. Die Ärzte kommen zu dir, du mußt nicht zu ihnen gehen. Tony hat die Ärzte gebeten, alle Geräte, alle therapeutischen Hilfsmittel zu bestellen, die deine Genesung beschleunigen, ohne Rücksicht auf die Kosten. Du wirst von einer speziell ausgebildeten Krankenschwester betreut, und ein ganzes Heer von Bediensteten schwirrt um dich herum. Tony hat bereits ein weiteres Dienstmädchen eingestellt und noch zwei
Gartenarbeiter. Er tut so viel für dich.«
»Ich weiß.« Mein Blick fiel auf die silbergerahmten Fotos.
»Ich glaube, ich vermisse einfach Mammi und Daddy so sehr.«
»Aber natürlich.« Drake setzte sich neben mich aufs Bett und nahm meine Hand in die seine. »Arme Annie. Ich vermisse sie auch. Manchmal, wenn ich zwischendurch mal eine Stunde Zeit für mich habe, denke ich, daß ich Heaven anrufen sollte, und dann fällt mir wieder ein, was geschehen ist.«
»Manchmal hoffe ich immer noch, daß alles nur ein Traum ist, Drake, und daß ich aufwache und du vom College nach Hause kommst, um mich zu besuchen.«
Er nickte. Dann beugte er sich vor und küßte mich liebevoll auf die Wange, aber so nahe bei meinen Lippen, daß sich unsere Mundwinkel berührten. Das schien ihm peinlich zu sein. Ich merkte, daß er ein neues Eau de Cologne benutzte –
das gleiche wie Tony.
»Hör mal zu«, sagte er schnell, »wenn du nicht richtig ißt, dann machen sie noch mich dafür verantwortlich und erlauben mir nie wieder, dir das Essen zu bringen.«
Ich löffelte meine Suppe und biß in das Sandwich.
»Hast du mit Luke gesprochen? Du hast doch sicher von seiner wunderbaren Ansprache bei der Abschlußfeier in der Schule gehört?«
»Ja. Mark Downing hat mir davon erzählt. Er war in Boston und kam mich besuchen. Er meinte, alle seien schockiert gewesen, als Luke von Logan als von seinem Vater sprach, obwohl doch jeder längst wußte, daß es so ist.«
»Ich bin so stolz auf ihn. Du nicht auch?« Drake nickte.
»Aber Drake, hast du denn seither noch nicht wieder mit ihm gesprochen? Du hast ihn doch bestimmt angerufen und ihm gratuliert?«
»Ehrlich gesagt, Annie, ich war nicht in der Stimmung, irgend jemandem zu irgend etwas zu gratulieren. Ich habe so viel wie möglich gearbeitet, um an nichts denken zu müssen.«
Ich nickte sanft, weil ich gut verstand, was er meinte.
»Du hast also überhaupt nicht mit ihm gesprochen?«
»Gestern habe ich ein paar Worte mit ihm gewechselt, nachdem er in Harvard angekommen war.«
»Er ist in Harvard! Ach, dann ist er ja ganz in der Nähe und kann mich besuchen kommen. Oder er wird Tony anrufen.
Vielleicht hat er ja schon angerufen.«
Drakes Augen verdunkelten sich, und die Linien um seinen Mund wirkten verkniffen.
»Du mußt ihm ein bißchen Zeit lassen, bis er sich in Harvard zurechtgefunden hat. Es ist nicht so einfach, wenn man neu aufs College kommt. Man hat unglaublich viel zu erledigen, man muß Formulare ausfüllen und alles mögliche organisieren.
Er ist ganz begeistert und aufgeregt und hat natürlich in seinem Studentenwohnheim neue Leute kennengelernt. Die Wohnheime sind ja inzwischen gemischt, weißt du. Unter seinen neuen Freunden sind bestimmt auch Mädchen. Du mußt schon auch damit rechnen, daß er eines Tages eine richtige Freundin findet.«
Mir wurde schwer ums Herz. Eine richtige Freundin? Eine Frau, die meinen Platz einnehmen würde, eine Frau, der er seine intimsten und geheimsten Gedanken anvertrauen, mit der er seine Träume teilen würde – und diese Frau würde nicht ich sein. Im Innersten meines Herzens hatte ich natürlich immer gewußt, daß es eines Tages so kommen mußte, aber ich wollte nicht auf die Stimmen hören, die es mir warnend zuflüsterten, und jetzt erzählte mir Drake auf seine übliche lässige Art, daß Luke sich in ein anderes Mädchen verlieben könnte und mit ihr ein glückliches und zufriedenes Leben führen würde.
Außerdem konnte es natürlich sein, daß mein Zustand das alles beschleunigen würde, denn ich war ja nicht für ihn da. Ich saß hier fest, gelähmt und allein!
Ich wandte schnell den Blick ab, damit Drake meine Gedanken nicht erraten konnte.
»Ja, natürlich, aber ich bin sicher, sobald
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