Nacht über Juniper
der Zeit zu mir herüberhallen und ich wieder nichts tun kann, um sie zu retten. »Was ist los mit dir?« fragte Elmo, schnappte mir die Landkarte unter den Fingern weg und legte den Kopf auf die Seite. »Sieht aus, als ob du ein Gespenst gesehen hast.« »Ich hab nur gerade an die Schreckenssteppe gedacht.« »Oh. Jau. Na, laß mal gut sein. Hol dir ein Bier.« Er schlug mir auf den Rücken. »Hey! Kingpin! Wo bist du gewesen?« Im Laufschritt rannte er dem führenden Drückeberger der Schar hinterher.
Einen Augenblick später tauchte Einauge neben mir auf und erschreckte mich zu Tode.
»Wie geht es Goblin?« fragte er leise. Seit Madle hatten sie nicht mehr miteinander ge- sprochen. Er beäugte die Landkarte. »Die Leeren Hügel? Interessanter Name.« »Man nennt sie auch die Hohlen Hügel. Es geht ihm gut. Warum besuchst du ihn nicht mal?«
»Wozu, verdammt? Er hat sich doch wie ein Esel benommen. Kann nicht mal mehr einen kleinen Spaß vertragen…«
»Deine Spaße werden ein wenig rauh, Einauge.« »Naja. Kann schon sein. Ich sag dir was. Du kommst mit.« »Ich muß meine Lesung vorbereiten.« Einmal pro Monat erwartet der Hauptmann von mir, daß ich die Männer mit einer Lesung aus den Annalen ermahne. Damit wir wieder wissen, woher wir kommen, damit wir uns dann unserer Vorgänger in der Schar erinnern. Das bedeu- tete früher einmal eine Menge. Die Schwarze Schar. Die letzte der Freien Scharen von Khato- var. Alles Brüder. Eng zusammen. Großer Kampfgeist. Wir gegen die Welt, und die Welt soll sich bloß vorsehen. Aber das, was sich in Goblins Verhalten, in der leichten Depression von Elmo und den anderen gezeigt hatte, wirkte sich auf alle aus. Die Truppe fiel allmählich aus- einander.
Ich mußte ein gutes Kapitel aussuchen. Aus einer Zeit, als die Schar mit dem Rücken an der Wand stand und nur dadurch überlebte, weil sie an ihren überlieferten Werten festhielt. In vierhundert Jahren hat es viele solcher Momente gegeben. Ich wollte einen, der von einem der feurigeren Chronisten aufgezeichnet worden war, einen, der mit derselben Hitze sprach wie ein Wiedertäufer der Weißen Rose zu potentiellen Rekruten. Vielleicht brauchte ich eine Se- rie, die ich an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden verlesen konnte. »Bockmist«, sagte Einauge. »Du kennst diese Bücher doch auswendig. Hängst doch ständig mit der Nase drin. Mann, du könntest dir die ganze Chose aus den Fingern saugen, und nie- mand würde es merken.«
»Wahrscheinlich. Und wenn ich das täte, wäre es allen egal. Die ganze Geschichte fängt an zu stinken, mein Alter. Nun gut. Komm, wir besuchen Goblin.« Vielleicht müssen die Annalen auf einer anderen Ebene gelesen werden. Vielleicht behan- delte ich hier nur die Symptome. Für mich haben die Annalen etwas Mystisches. Vielleicht konnte ich die Krankheit identifizieren, indem ich mich in ihnen vergrub und versuchte, zwi- schen den Zeilen zu lesen.
Goblin und Schweiger spielten Mumbletypeg, ohne die Hände zu benutzen. Das muß man unseren drei Geisterbeschwörern lassen: Sie sind keine Spitzenklasse, aber sie erhalten sich ihre Begabungen durch ständiges Training. Goblin lag nach Punkten vorne. Er hatte gute Laune. Er nickte sogar Einauge zu.
Aha. Es war vorbei. Der Korken konnte in die Flasche zurückgestopft werden. Einauge mußte nur die richtigen Worte finden.
Zu meinem Erstaunen entschuldigte er sich sogar. Schweiger bedeutete mir, daß wir hinaus- gehen und sie in Ruhe Frieden schließen lassen sollten. Beide hatten ein Übermaß an Stolz.
Wir gingen nach draußen. Wie wir es häufig taten, wenn niemand unsere Zeichen lesen
konnte, sprachen wir über die alten Zeiten. Er kannte ebenfalls ein Geheimnis, für das die Lady ganze Nationen auslöschen würde.
Ein halbes Dutzend andere hatten einmal Verdacht geschöpft und es dann wieder vergessen. Wir wußten Bescheid und würden es nie vergessen. Wenn die anderen peinlicher Befragung unterzogen werden würden, dann hätten sie die Lady bloß mit ernsthaften Zweifeln zurückge- lassen. Bei uns beiden war das anders. Wir kannten die Identität des mächtigsten Feindes der Lady – und sechs Jahre lang hatten wir nichts getan, um sie auf den Umstand aufmerksam zu machen, daß dieser Feind mehr als nur eine Legende der Rebellen war. Die Rebellen neigen zum Aberglauben. Sie mögen Propheten und Prophezeiungen und gro- ße dramatische Vorhersagen über gewaltige bevorstehende Siege. Die Jagd nach einer solchen Prophezeiung führte sie bei Charm
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