Nacht über Juniper
Shed?«
»Ich schätze mal, man kann jemandem nur bis zu einem bestimmten Punkt Angst einjagen.«
»Das stimmt. Aber ich hätte nie gedacht, daß du das selbst herausfinden würdest. Shed, du versetzt mich in Erstaunen. Aber ich bin auch ein wenig enttäuscht. Ich wollte Krage für mich selbst haben.«
»Der da drin solchen Krach macht, das ist er. Er hat sich das Rückgrat gebrochen oder so. Bring ihn um, wenn du willst.«
»Lebend ist er mehr wert.«
Shed nickte. Armer Krage. »Wo ist der Rest?« »Einer ist auf dem Dach. Ich vermute, der andere ist entkommen.« »Verdammt. Das heißt, daß es noch nicht vorbei ist.« »Wir können ihn später erwischen.«
»In der Zwischenzeit marschiert er los und holt die anderen, und dann sind sie alle hinter uns her.«
»Glaubst du, die würden ihr Leben riskieren, um Krage zu rächen? Vergiß es. Sie werden sich gegenseitig zerfleischen. Werden versuchen, das Geschäft zu übernehmen. Warte hier. Ich hole den anderen.«
»Beeil dich«, sagte Shed. Allmählich setzte die Reaktion ein. Er hatte überlebt. Der alte Shed kehrte zurück und zerrte seine Hysterie hinter sich her.
Während sie sich von der Burg entfernten und rosige und violette Morgenrötestreifen die Lücken zwischen den Wolanderbergen verschmierten, fragte Shed: »Warum schreit er so?« Das dünne Wesen hatte gelacht und einhundertzwanzig Leva für Krage bezahlt. Sein Ge- kreische konnte man noch immer hören.
»Ich weiß es nicht. Schau nicht zurück, Shed. Tu, was du tun mußt, und mach einfach wei- ter.« Einen Augenblick später: »Ich bin froh, daß es vorbei ist.« »Vorbei? Was meinst du damit?«
»Das war mein letzter Besuch.« Raven klopfte sich auf die Tasche. »Ich habe genug zu- sammen.«
»Ich auch. Ich habe keine Schulden mehr. Ich kann die Lilie neu einrichten, meine Mutter in einem eigenen Haus unterbringen, und habe dann noch eine Menge übrig, um den nächsten Winter zu überstehen, ganz gleich, wie das Geschäft läuft. Ich werde vergessen, daß es diese Burg überhaupt gibt.«
»Das glaube ich nicht, Shed. Wenn du fortgehen willst, dann komm besser mit mir. Sonst wird sie dich immer rufen, wenn du mal schnelles Geld brauchst.«
»Ich kann doch nicht weg. Ich muß mich doch um meine Mutter kümmern.«
»Schon gut. Ich habe dich gewarnt.« Dann fragte Raven: »Was ist mit Asa? Er wird zu ei- nem Problem werden. Die Wächter werden so lange suchen, bis sie die Leute finden, die die Katakomben ausgeraubt haben. Er ist das schwache Glied in der Kette.« »Mit Asa werde ich fertig.«
»Das hoffe ich, Shed. Das hoffe ich.«
Krages Verschwinden war das Hauptgesprächsthema im Stiefel. Shed spielte den Dummen und behauptete, er wüßte von nichts, obwohl es Gerüchte gab, die das Gegenteil besagten. Seine Geschichte ging durch. Er war Shed, der Feigling. Der einzige Mann, der die Wahrheit wußte, strafte ihn nicht Lügen.
Für ihn war es nur schwer, seiner Mutter gegenüberzutreten. Die alte June sagte nichts, aber ihr blinder Blick hatte etwas Anklagendes. Sie gab ihm das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, ein Ungläubiger, verstoßen in den geheimen Tiefen ihres Verstandes. Der Graben war unüberbrückbar geworden.
SECHZEHNTES KAPITEL
Juniper: Eine böse Überraschung
Als Bullock das nächste Mal in die Stadt hinunter gehen wollte, holte er mich von sich aus ab. Vielleicht wollte er bloß Gesellschaft. Im Ort hatte er keine Freunde. »Was liegt an?« fragte ich ihn, als er in mein kleines Büro cum Apotheke stürmte. »Hol deinen Mantel. Es ist wieder Stiefel-Zeit.« Sein Eifer steckte mich aus keinem anderen Grund an als dem, daß ich von Duretile die Na- se voll hatte. Meine Kameraden taten mir leid. Sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, hier mal herauszukommen. Der Ort war Langweilshausen schlechthin. Also machten wir uns auf, und als wir den Hügel hinab und an der Einfriedungsmauer vor- beigingen, fragte ich: »Warum so aufgeregt?« »Eigentlich nicht aufgeregt«, gab er zur Antwort. »Hat wahrscheinlich auch gar nichts mit unserer Geschichte zu tun. Erinnerst du dich an dieses Herzchen von Geldverleiher?« »Der mit den Verbänden?«
»Jup. Krage. Er ist verschwunden. Er und die Hälfte seiner Jungens. Offenbar ist er auf den Kerl losgegangen, der ihm die Abreibung verpaßt hat. Und seither hat ihn niemand mehr ge- sehen.«
Ich runzelte die Stirn. Das erschien mir nicht weiter bemerkenswert. Gangster verschwanden immer wieder einmal, nur um wieder aufzutauchen. »Da drüben.«
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