Nacht über Juniper
sich die Kerzenmacherstraße herunter«, berichtete ein Beschatter. »Geht sämtli- che kleinen Seitengäßchen durch.«
Krage fragte Shed: »Glaubst du, daß er so spät im Winter noch etwas finden wird? Die Schwächlinge sind doch alle schon gestorben.« Shed zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht.« Er rieb den linken Arm gegen seine Brust. Die Anwesenheit des Messers half, aber nicht viel. Seine Angst erreichte einen Höhepunkt und sackte in sich zusammen. Sein Verstand kühlte zu einer gefühllosen Taubheit ab. Die Furcht ließ nach, und er versuchte, den unsichtbaren Ausweg zu finden.
Wieder tauchte einer aus der Finsternis auf und berichtete, daß sie etwa einhundert Fuß von
Ravens Wagen entfernt waren. Vor zehn Minuten war Raven in einer Seitengasse ver- schwunden. Er war noch nicht wiedergekommen. »Hat er dich entdeckt?« knurrte Krage.
»Ich glaube nicht. Aber man kann nie wissen.« Krage sah Shed an. »Shed, würde er sein Gespann zurücklassen?« »Woher soll ich das wissen?« quiekte Shed. »Vielleicht hat er etwas gefunden.« »Das sehen wir uns mal an.« Sie schoben sich zu der Gasse vor. Sie war eine von zahllosen Sackgassen, die von der Kerzenmacherstraße abgingen. Mit leicht geneigtem Kopf spähte Krage in die Finsternis. »Still wie die Katakomben. Schau mal nach, Luke.« »Boß?«
»Ganz ruhig bleiben, Luke. Der alte Shed bleibt genau hinter dir. Nicht wahr, Shed?« »Krage…«
»Los jetzt!«
Shed torkelte vorwärts. Luke rückte behutsam vor und schlitzte die Dunkelheit mit seinem Messer auf. Shed versuchte mit ihm zu reden. »Halt den Mund!« fauchte er. »Hast du keine Waffe?«
»Nein«, log Shed. Er schaute kurz zurück. Sie waren allein. Sie erreichten das Ende der Sackgasse. Kein Raven. »Da soll mich doch«, sagte Luke. »Wie ist er hier rausgekommen?«
»Keine Ahnung. Sehen wir doch mal nach.« Das war vielleicht seine Chance. »Da haben wir es ja«, sagte Luke. »Er ist dieses Abflußrohr rauf geklettert.« Sheds Eingeweide krampften sich zusammen. Der Hals wurde ihm eng. »Versuchen wir es mal. Vielleicht können wir ihm folgen.« »Jau.« Luke begann zu klettern.
Shed dachte nicht darüber nach. Das Fleischermesser tauchte in seiner Hand auf. Seine Hand schoß nach vorne. Luke bog den Rücken durch, fiel zu Boden. Shed stürzte sich auf ihn, rammte ihm die Handfläche gegen den Mund, hielt ihn während der Minute fest, die er zum Sterben brauchte. Er wich zurück, konnte nicht glauben, daß er es tatsächlich getan hatte. »Was ist da hinten los?« wollte Krage wissen. »Wir können nichts finden«, brüllte Shed. Er zerrte Luke zu einer Mauer, begrub ihn unter Schutt und Schnee, rannte zum Abflußrohr zurück. Daß Krage näher kam, war ein wirksamer Ansporn. Er grunzte, strengte sich an, zerrte sich einen Muskel, erreichte das Dach. Es be- stand aus einem zwei Fuß breiten und leicht geneigten Sims, dann aus einem zwölf Fuß lan- gen Anstieg in einem Winkel von fünfundvierzig Grad, darüber war das Dach dann flach.
Shed lehnte sich keuchend gegen den steilen Schiefer. Er konnte immer noch nicht glauben,
daß er gerade einen Menschen getötet hatte. Als er Stimmen hörte, schob er sich langsam seitwärts.
Jemand fauchte wütend: »Sie sind weg, Krage. Kein Raven. Auch kein Luke und kein Shed.«
»Der Bastard. Ich hab doch gewußt, daß er mich reinlegen wollte.« »Warum ist Luke dann mit ihm gegangen?« »Verdammt, das weiß ich doch nicht. Steht hier nicht rum. Seht euch um. Irgendwie sind sie hier rausgekommen.«
»Hey. Hier drüben. Jemand ist das Rohr hinaufgeklettert. Vielleicht sind sie hinter Raven her.«
»Dann klettert das verdammte Ding hoch. Findet es raus. Luke! Shed!« »Hier drüben«, rief eine Stimme. Shed erstarrte. Was, zur Hölle? Es mußte Raven sein. Er tastete sich vorsichtig weiter und versuchte sich einzureden, daß unter seinen Fersen kei- ne fünfunddreißig Fuß Vergessen lagen. Er erreichte eine kannelierte Ecke, über die er auf das flache Oberdach klettern konnte. »Hier drüben. Ich glaube, wir haben ihn in der Falle.« »Rauf mit euch, ihr Schweinehunde!« tobte Krage. Shed lag reglos auf dem kalten vereisten Teer und sah zu, wie zwei Schatten auf dem Sims auftauchten und langsam auf die Stimme zuglitten. Ein metallenes Quietschen und lästerliche Flüche verkündeten das Schicksal eines dritten Kletterers. »Hab mir den Knöchel verstaucht, Krage«, beschwerte sich der Mann.
»Komm mit«, knurrte Krage. »Wir finden schon einen anderen Weg
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