Nacht über Juniper
nach oben.« Lauf weg, solange du noch kannst, dachte Shed. Geh nach Hause und verkriech dich, bis al-
les vorbei ist. Aber er konnte nicht. Er rutschte zum Sims hinunter und schlich hinter Krages
Männern her.
Jemand schrie auf, versuchte scharrend sich festzuhalten, stürzte in die Dunkelheit zwischen den Häusern hinab. Krage brüllte. Niemand antwortete ihm. Shed wechselte zum Nebendach hinüber. Es war flach, mit zahlreichen Schornsteinen. »Ra- ven?« rief er leise. »Ich bin’s, Shed.« Er tastete nach dem Messer in seinem Ärmel. Er konnte immer noch nicht glauben, daß er es benutzt hatte. Ein Schatten tauchte vor ihm auf. Shed kauerte sich nieder und umschlang seine Knie. »Und was jetzt?« fragte er.
»Was machst du denn hier?«
»Krage hat mich mitgeschleift. Wenn es eine Falle gewesen wäre, sollte ich der erste sein, der drauf geht.« Er berichtete Raven, was er getan hatte. »Verdammt! Du hast also doch Mumm.«
»Er hat mich in die Enge getrieben. Was jetzt?«
»Die Chancen werden immer besser. Laß mich mal nachdenken.« Aus der Kerzenmacherstraße erklang Krages Gebrüll. Raven schrie zurück: »Hier drüben! Wir sind ihm dicht auf den Fersen.« Zu Shed sagte er: »Ich weiß nicht, wie lange ich ihn noch zum Narren halten kann. Eigentlich wollte ich einen nach dem anderen erledigen. Ich wußte nicht, daß er eine ganze Armee mitbringt.« »Meine Nerven sind völlig im Eimer«, sagte Shed. Höhenangst zählte zu den tausend ande- ren Dingen, die ihn in Furcht und Schrecken versetzten. »Reiß dich zusammen. Es ist noch lange nicht vorbei.« Raven schrie: »Schneidet ihm doch endlich den Weg ab, ja?« Er lief los. »Komm schon, Shed.« Shed konnte nicht Schritt halten. Er war nicht so gewandt wie Raven. Aus der Dunkelheit ragte eine Gestalt vor ihm auf. Er quiekte leise. »Bist du das, Shed?« Es war einer von Krages Männern. Sheds Herzschlag hämmerte. »Ja. Hast du Raven gesehen?«
»Nein. Wo ist Luke?«
»Verdammt, er ist doch genau in deine Richtung gegangen. Wie konntest du ihn verpassen? Sieh doch nur, hier.« Shed zeigte auf Scharrspuren im Schnee. »Hör mal, Mann, ich hab’ ihn nicht gesehen, ja? Komm mir bloß nicht so, als wärst du Kra- ge persönlich. Ich tret dir den Arsch bis über die Ohren hoch.« »Schon gut. Schon gut. Beruhige dich. Ich habe Angst, und ich will doch nur, daß die Ge- schichte vorbei ist. Luke ist runtergefallen. Dort hinten. Ist irgendwie auf Eis ausgerutscht oder so. Sei vorsichtig.«
»Das hab ich gehört. Klang allerdings wie Milt. Ich hätte schwören können, daß es Milt war. Das ist doch Schwachsinn. Er kann uns hier pflücken wie reife Äpfel. Wir sollten uns zurück- ziehen und etwas anderes probieren.«
»Äh-ähh. Ich will ihn jetzt. Ich will nicht, daß er mich morgen erwischt.« Shed staunte über sich selbst. Wie leicht die Lügen hervorkamen. Im stillen verfluchte er den Mann, weil er sich nicht umdrehte. »Hast du vielleicht ein Messer übrig oder so etwas?« »Du? Mit einem Messer? Komm schon. Bleib an mir dran, Shed. Ich passe schon auf dich auf.«
»Sicher. Schau, die Spur führt dort entlang. Bringen wir’s hinter uns.« Der Mann drehte sich um und wollte Ravens Spuren untersuchen. Shed zog sein Messer und stach heftig zu. Der Mann stieß einen Schrei aus, bäumte sich auf. Das Messer brach ab. Shed wäre beinahe vom Dach gekippt. Sein Opfer kippte tatsächlich. Stimmen brüllten Fragen. Krage und seine Männer waren offenbar nun alle auf den Dächern. Als Shed das Zittern endlich überwand, setzte er sich wieder in Bewegung und versuchte
sich zu erinnern, wie die Männer hier angeordnet waren. Er wollte runter und nach Hause.
Raven konnte diesen Wahnsinn allein beenden. Auf dem nächsten Dach rannte Shed in Krage hinein. »Krage!« jammerte er. »O Gott! Laß mich hier raus! Er wird uns alle umbringen!« »Ich werde dich umbringen, Shed. Es war eine Falle, oder etwa nicht?« »Krage, nein!« Was konnte er tun. Das Fleischermesser hatte er nicht mehr. Täuschen. Jam- mern und vortäuschen. »Krage, du mußt von hier verschwinden. Er hat schon Luke und Milt und noch einen erwischt. Als er sich Luke vorgenommen hat, hätte er mich beinahe auch ge- kriegt, aber er ist gestürzt, und ich konnte abhauen – aber dann hat er mich wieder eingeholt, als ich da drüben mit einem von deinen Leuten gesprochen habe. Sie haben gekämpft, und einer von ihnen ist über den Rand gegangen; ich weiß nicht, wer es war, aber ich möchte wet- ten, es war
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