Nacht unter Tag
eilte.
»Ich habe DI Pirie klargemacht, dass ich nichts erzählen würde. Sie begriff, dass es keinen Sinn hatte, die Pattsituation noch weiter zu verlängern.« Bel warf einen Blick über ihre Schulter. »Das ist nicht das erste Mal während meiner Karriere, dass ich Informationen vor der Polizei zurückhalten musste. Ich habe Ihnen ja gesagt, es war nicht nötig, ihr Angst einzujagen.«
Grant räumte das mit einem Nicken ein. »Es tut mir leid, dass ich Sie nicht beim Wort genommen habe.«
»Es sollte Ihnen auch leidtun«, bekräftigte Bel. »Ich …« Sie unterbrach sich, um ihr klingelndes Handy herauszuholen. »Bel Richmond«, meldete sie sich und hielt einen Finger hoch, um Grant zu bedeuten, er möge still sein.
Ein Schwall italienischer Worte drang an ihr Ohr. Sie verstand »Boscolata« und erkannte dann die Stimme des Jungen, der Gabriel mit Matthias an dem Abend gesehen hatte, bevor BurEst sich abgesetzt hatte. »Langsam, nimm dir Zeit«, beschwichtigte sie ihn sanft und wechselte in seine Sprache über.
»Ich habe ihn gesehen«, berichtete der Junge. »Gestern. Ich habe Gabe wieder in Siena gesehen. Und ich wusste, dass Sie ihn suchen, also bin ich ihm gefolgt.«
»Du bist ihm gefolgt?«
»Ja, wie im Kino. Er ist in einen Bus eingestiegen, und ich hab’s geschafft, mich auch reinzuschmuggeln, ohne dass er mich bemerkt hat. Wir sind schließlich in Greve gelandet. Kennen Sie Greve in Chianti?«
Sie kannte Greve. Ein schönes kleines Marktstädtchen voller schicker Läden für die reichen Engländer, nur gerettet durch ein paar Cafés und Restaurants, die die Einheimischen noch besuchten. Freitags und samstags ein Treffpunkt für junge Leute. »Ich kenne Greve«, sagte sie.
»Wir landen also schließlich auf der großen Piazza, und er geht in eine Bar, setzt sich zu einer Gruppe von Jungs ungefähr in seinem Alter. Ich blieb draußen, aber ich konnte ihn durchs Fenster sehen. Er trank zwei Gläser Bier und aß einen Teller Pasta, dann kam er heraus.«
»Hast du ihm folgen können?«
»Nicht ganz. Ich dachte, ich könnte ihm hinterhergehen, aber er hatte zwei Straßen weiter eine Vespa stehen. Er ist die Straße langgefahren, die nach Osten aus der Stadt hinausführt.«
Nah dran, aber nicht nah genug. »Das hast du gut gemacht«, lobte sie.
»Ich hab’s noch besser gemacht. Ich hab zwanzig Minuten gewartet, dann bin ich in die Bar gegangen, in der er gewesen war. Ich sagte, ich suchte Gabe, ich hätte ihn dort treffen sollen. Seine Kumpel antworteten, ich hätte ihn gerade verpasst. Also hab ich mich ganz unschuldig gegeben und gefragt, ob sie mir den Weg zu seinem Haus beschreiben könnten, ich wüsste nicht, wie man da hinkommt.«
»Ist ja toll«, begeisterte sich Bel, denn sein Unternehmungsgeist verblüffte sie wirklich.
Grant wollte weggehen, aber sie winkte ihm, er solle bleiben.
»Da haben sie es mir aufgezeichnet«, fuhr er fort. »Ist doch cool, oder? Es scheint gerade ’n bisschen mehr als ’ne Schäferhütte zu sein.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich bin mit dem letzten Bus nach Haus gefahren«, erklärte er, als liege es doch auf der Hand. Und das tat es ja auch, dachte sie, wenn man ein Teenager war.
»Und du hast diese Zeichnung noch?«
»Ich hab sie mitgenommen«, bestätigte er. »Ich hab mir gedacht, sie wäre Ihnen vielleicht etwas wert. Vielleicht hundert Euro, dachte ich?«
»Darüber reden wir noch. Hör zu. Ich werde wiederkommen, sobald ich kann. Rede mit niemandem darüber außer mit Grazia, okay?«
»Okay.«
Bel legte auf, sah Grant an und hielt triumphierend den ausgestreckten Daumen hoch. »Geschafft«, jubelte sie. »Vergessen Sie die Privatdetektive. Mein Kontaktmann hat entdeckt, wo Gabriel wohnt. Und jetzt muss ich nach Italien zurück, um mit ihm zu sprechen.«
Grant strahlte. »Das ist ja eine fabelhafte Neuigkeit. Ich komme mit. Wenn dieser Junge mein Enkel ist, will ich ihn persönlich sehen. Je eher, desto besser.«
»Ich glaube, das wäre nicht gut. Wir müssen es behutsam angehen«, bremste ihn Bel.
Hinter ihr meldete sich eine Stimme. »Sie hat recht, Brodie. Wir müssen viel mehr über diesen Jungen wissen, bevor du dich so weit aus dem Fenster lehnen kannst.« Judith trat näher und legte ihrem Mann eine Hand auf den Arm. »Das könnte doch alles ein raffiniertes abgekartetes Spiel sein. Wenn dies die Leute sind, die vor zweiundzwanzig Jahren Adam entführt und dich bestohlen haben, wissen wir, dass sie zur größten Grausamkeit fähig
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