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Nacht unter Tag

Nacht unter Tag

Titel: Nacht unter Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Frauen hatten bei der Unterstützung ihrer Männer viel gelernt, doch im persönlichen Umgang mit anderen haperte es noch mit der Durchsetzungsfähigkeit. Aber das würde schon werden, sagte sie sich. Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben im Kokon dieser Welt verbracht, die sich auf Zeche und Wohlfahrt beschränkte, wo es keine Geheimnisse gab und wo die Gewerkschaft die Stelle von Mutter und Vater einnahm. »Ich mach mir Sorgen um Mick«, berichtete sie. Es brachte nichts, um den heißen Brei herumzureden. »Er ist gestern Morgen losgegangen und nicht zurückgekommen. Ich dachte, ob vielleicht …?«
    Reekie hielt seine Finger an die Stirn und rieb so fest, dass abwechselnd weiße und gerötete Flecken darauf erschienen. »Herrgott«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne.
    »Und du erwartest, dass wir glauben, du wüsstest nicht, wo er ist?« Dieser Vorwurf kam von Ezra Macafferty, dem letzten der noch lebenden Zeugen der Aussperrungen und Streiks der zwanziger Jahre.
    »Natürlich weiß ich nicht, wo er ist.« Jennys Stimme klang traurig, und eine dunkle Angst begann, sich kalt in ihrer Brust auszubreiten. »Ich dachte, er ist vielleicht hier gewesen. Ich dachte, irgendjemand wüsste es vielleicht.«
    »Dann sind es also sechs«, stellte McGahey fest. Sie erkannte das tiefe Grollen seiner rauhen Stimme, die sie in Fernsehinterviews und auf Versammlungen im Freien gehört hatte. Es war seltsam, mit dieser Stimme im selben Raum zu sein.
    »Ich verstehe nicht, was denn für sechs?«, fragte sie. »Was ist los?« Aller Augen richteten sich auf sie, alle Blicke durchbohrten sie. Jenny spürte ihre Verachtung, begriff aber nicht, weswegen sie ihr entgegengebracht wurde. »Ist Mick etwas passiert? Ein Unfall?«
    »Allerdings ist etwas passiert«, erwiderte McGahey. »Sieht aus, als wäre Ihr Mann als Streikbrecher nach Nottingham gegangen.«
    Es war, als pressten seine Worte ihr die Luft ab. Sie hörte auf zu atmen, und um sie herum entstand eine Blase, an der die Worte abprallen sollten. Das konnte nicht stimmen. Mick doch nicht. Sprachlos schüttelte sie heftig den Kopf. Die Worte begannen sie wieder zu erreichen, ergaben aber immer noch keinen Sinn. »Wussten von den fünf … dachten, es wären vielleicht noch mehr … immer ein Verräter in unseren Reihen … enttäuscht … immer einer von der Gewerkschaft.«
    »Nein«, rief sie. »Das würde er nicht tun.«
    »Wie erklärst du dann, dass er nicht hier ist?«, fragte Reekie. »Du bist doch selbst hergekommen, um ihn zu suchen. Wir wissen, dass gestern Abend ein ganzer Lastwagen voll runtergefahren ist. Und dabei ist mindestens einer ein Freund von deinem Mick. Wo zum Teufel soll er denn sonst sein?«

[home]
Donnerstag, 28. Juni 2007,
Newton of Wemyss
    I ch hätte mich nicht schlechter fühlen können, wenn sie mir vorgeworfen hätten, ich sei eine Hure«, erzählte Jenny. »Ich nehme an, in ihren Augen war ich genau das. Mein Kerl fort als Streikbrecher, da würde es nicht lange dauern, und ich würde von unehrlichen Einkünften leben.«
    »Haben Sie nie bezweifelt, dass sie recht hatten?«
    Jenny strich sich das Haar aus dem Gesicht und streifte damit für einen Moment einige Lebensjahre und ihre Fügsamkeit ab. »Eigentlich nicht. Mick war mit Iain Maclean befreundet, das war einer von denen, die nach Nottingham gegangen waren. Dagegen konnte ich nichts sagen. Und vergessen Sie nicht, wie es damals war. Die Männer gaben den Ton an, und die Gewerkschaft bestimmte, was die Männer zu tun hatten. Wenn die Frauen am Streik teilnehmen wollten, war die erste Schlacht, die wir durchstehen mussten, die gegen die Gewerkschaft. Wir mussten betteln, dass sie uns mitmachen ließen. Wir sollten dort bleiben, wo wir immer gewesen waren, im Hinterzimmer oder zu Hause am Herd. Nicht bei den Kohlenbecken der Streikpostenketten. Aber obwohl wir uns für die ›Frauen gegen die Zechenschließungen‹ starkgemacht hatten, wussten wir, wohin wir gehörten. Man musste verdammt stark oder verdammt dämlich sein, um sich in dieser Gegend hier gegen den Wind zu stemmen.«
    Karen hatte nicht zum ersten Mal eine Version dieser Wahrheit gehört. Sie fragte sich, ob sie selbst sich in der gleichen Lage wohl besser geschlagen hätte. Es fühlte sich gut an, zu denken, dass sie ihrem Partner etwas beharrlicher zur Seite stehen würde. Aber angesichts der Feindseligkeit, die Jenny Prentice von der Gemeinde entgegengeschlagen sein musste, vermutete Karen, dass sie wahrscheinlich

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