Nacht unter Tag
auch klein beigegeben hätte. »Na gut«, meinte sie. »Aber da es jetzt so aussieht, als sei Mick doch nicht arbeiten gegangen, haben Sie da irgendeine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?«
Jenny schüttelte den Kopf. »Keinen Schimmer. Obwohl ich es nicht glauben konnte, war das mit dem Streikbrechen doch irgendwie logisch. Deswegen hab ich nie über eine andere Möglichkeit nachgedacht.«
»Meinen Sie, dass er einfach die Nase voll hatte? Und sich deshalb aus dem Staub gemacht hat?«
Sie runzelte die Stirn. »Wissen Sie, das würde Mick gar nicht ähnlich sehen. Wegzugehen, ohne etwas zu sagen? Das glaube ich nicht. Er hätte dafür gesorgt, dass ich wusste, dass alles meine Schuld wäre«, erwiderte sie mit einem bitteren Lachen.
»Sie glauben nicht, dass er vielleicht weggegangen ist, ohne etwas zu sagen, damit Sie noch mehr litten?«
Jennys Kopf fuhr zurück. »Das ist ja krank«, protestierte sie. »Sie tun ja, als wäre er so etwas wie ein Sadist gewesen. Grausam war er nicht, Inspector. Nur gedankenlos und egoistisch, genau wie die anderen auch.«
Karen hielt einen Moment inne. Dies war immer der schwierigste Teil bei Gesprächen mit Verwandten vermisster Personen. »War er mit jemandem zerstritten? Hatte er Feinde, Jenny?«
Jenny sah Karen an, als spräche sie plötzlich Urdu. »Feinde? Sie meinen, jemand, der ihn umbringen würde?«
»Vielleicht nicht, dass jemand vorhatte, ihn umzubringen. Vielleicht jemand, der ihn nur verprügeln wollte?«
Diesmal war Jennys Lachen ehrlich und warmherzig. »Meine Güte, das ist ein Witz, dass gerade Sie das sagen.« Sie schüttelte den Kopf. »Die einzigen Handgreiflichkeiten, in die Mick in all den Jahren unserer Ehe geraten ist, das war mit eurer Truppe. Bei den Streikpostenketten. Bei den Demonstrationen. Ob er Feinde hatte? Ja, die Polente. Aber wir sind hier nicht in Südamerika, und ich erinnere mich nicht, von Verschwundenen des Bergarbeiterstreiks gehört zu haben. Die Antwort auf Ihre Frage ist also nein, er hatte keine Feinde, mit denen er in eine Schlägerei hätte geraten können.«
Karen schaute recht lange auf den Teppich hinab. Die übereifrige Brutalität der Polizei gegen die Streikenden hatte für eine ganze Generation oder noch länger die Beziehungen in der Gesellschaft vergiftet. Auch wenn die schlimmsten Übeltäter auswärtigen Polizeikräften angehört hatten, die zur Verstärkung mit Bussen hertransportiert und denen obszöne Summen für Überstunden gezahlt worden waren, damit sie ihre Mitbürger derart tyrannisierten, dass die meisten Leute darüber lieber gar nicht so genau Bescheid wissen wollten. Die negativen Konsequenzen ihrer Ignoranz und Anmaßung hatten sich auf jeden Mitarbeiter der Polizei in den Kohlerevieren ausgewirkt.
Und Karen vermutete, dass das immer noch so war. Sie holte tief Luft und sah auf. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Die Art und Weise, wie die Bergleute behandelt wurden, war unverzeihlich. Ich bin ziemlich sicher, dass wir jetzt nicht mehr so vorgehen würden, aber vielleicht täusche ich mich auch. Sind Sie sicher, dass es niemanden gab, mit dem er einen Zusammenstoß hatte?«
Jenny überlegte überhaupt nicht lange. »Ich wusste jedenfalls nichts davon. Er war kein Stänkerer. Er hatte seine Prinzipien, aber er nahm sie nicht als Vorwand, um Streit anzufangen. Er trat für das ein, was er für richtig hielt, aber er redete lieber, als sich zu prügeln.«
»Was war, wenn das Reden nichts nützte? Hat er dann nachgegeben?«
»Ich bin nicht sicher, was Sie damit meinen.«
Karen sprach langsam und tastete sich an den Gedanken heran. »Ich frage mich, ob er an jenem Tag damals vielleicht diesen Iain Maclean getroffen und versucht hat, ihn davon abzubringen, nach Nottingham zu fahren. Und wenn Iain nicht darauf einging und vielleicht seine Freunde dabeihatte, die sich hinter ihn stellten … Hätte Mick sich vielleicht mit ihm geschlagen?«
Jenny schüttelte bestimmt den Kopf. »Auf keinen Fall. Er hätte seine Meinung gesagt, und wenn das nicht funktioniert hätte, wäre er weggegangen.«
Karen war frustriert. Selbst nach so langer Zeit gab es bei ungelösten Fällen gewöhnlich doch ein oder zwei Möglichkeiten, die man weiterverfolgen konnte. Aber bis jetzt schien sich hier nichts Greifbares zu ergeben. Noch eine letzte Frage, dann würde sie verschwinden. »Haben Sie eine Ahnung, wohin Mick an dem Tag zum Malen gegangen sein könnte?«
»Er hat nichts gesagt. Das Einzige, was ich dazu
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