Nachtauge
deutsches Wort, er musste in Erfahrung brin gen, welche deutschen kriegswichtigen Worte mit A begannen.
»Gib Sohn Kreuz A. Lincoln, gib Sohn, gib Sohn …« Oder Gibson? Ein Name, den sie verfremdet hatten? Gibson. Wer hieß Gibson, gab es da ein lohnendes Ziel? Er brauchte die Akten aus dem Büro.
Vorsichtig richtete er sich im Bett auf. Die Schulter schmerzte, es fühlte sich an, als bohre jemand mit einem Stock in seinem Fleisch. Aber ihm wurde nicht schwarz vor Augen. Das ist auszuhalten, dachte er.
24
Auf halber Höhe der knarzenden Treppe machte Nachtauge Halt. »Und Sie brauchen das Zimmer wirklich nicht?«
»Solange mein Sohn bei der Armee ist, steht es leer.«
»Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.« Sie hielt inne. »Ach, haben Sie zufällig einen Dosenöffner für mich?«
»Selbstverständlich!« Die Bäuerin eilte in die Küche und brachte ihr das Gewünschte. »Haben Sie schon zu Abend gegessen? Ich schlachte heute ein Huhn. Wenn Sie mögen – ich mache einen schmackhaften Chicken Pie. So etwas kriegen Sie in der Stadt nicht mehr.«
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich muss heute Abend noch zu einer Verabredung. Gerne ein andermal!«
»Denken Sie an die Polizeisperrstunde. Nicht, dass wir Ärger bekommen.«
»Bin pünktlich wieder hier.« Nachtauge zog sich in ihr neues Zimmer zurück, öffnete die Dose Sojawürstchen, die sie unterwegs einem Soldaten abgeschwatzt hatte, und steckte sich eines in den Mund. Prüfend sah sie aus dem Fenster auf den Hof hinunter. Die Bäuerin hatte eines der Hühner gepackt, es flatterte, zeterte. Sie brachte es zum Hackklotz und hieb ihm mit einem Beil den Kopf ab. Diese Frau musste rund um die Uhr beschäftigt sein bei all den Tieren. Sie hatte keine Zeit, ihre Mieterin zu beaufsichtigen.
Dicht an dicht steckten die Würstchen in der Dose. Der Soldat hatte nicht gelogen, sie schmeckten erstaunlich gut, wenn man bedachte, dass sie überhaupt kein Fleisch enthielten. Seine Adresse hatte sie gleich in der Wirtshaustoilette entsorgt. Für den Fall, dass man sie festnahm und durchsuchte, durfte nichts auf den Weg hinweisen, den sie genommen hatte.
Sie verschlang ein weiteres Würstchen. Dann verließ sie das Zimmer und betrat die winzige Badekammer des Obergeschosses, die ihr zugewiesen worden war. Die Bäuerin hatte ihr einen Krug Wasser und eine Waschschüssel bereitgestellt. Ein Stapel alter Zeitungen lag in der Ecke.
Nachtauge zog sich die Bluse aus und wusch sich den Kopf. Sie brachte die Schüssel nach unten und schüttete das Wasser aus. Mit der Handpumpe des Waschbeckens pumpte sie neues Wasser. Sie fand einen Tauchsieder, hängte ihn ein und wartete, bis das Wasser zu kochen begann. Währenddessen suchte sie sich einen Kochlöffel und nahm ihn zwischen die Zähne. Den Tauchsieder legte sie ins steinerne Waschbecken und schleppte mit zwei Topflappen die Schüssel nach oben. Sie holte das Päckchen Zucker, das sie gekauft hatte, und schüttete einen Großteil davon ins Wasser. Rührte um, bis der Zucker sich aufgelöst hatte.
Aus Zeitungspapier drehte sie Papilloten. Sie nahm Strähne für Strähne ihr Haar, befeuchtete es mit Zuckerwasser und wickelte es um eine Papillote. Während sie die Haare trocknen ließ, holte sie aus dem Zimmer die Tasche mit den Schminksachen. Sie grundierte das Gesicht mit einem dunklen, warmen Ton. Anschließend puderte sie es hell. Auf die Wangen trug sie Rouge auf, nur ein wenig.
Sie schminkte die Augen mit einem schmalen Eyeliner und bürstete die Wimpern mit Rizinusöl. Für den Mund verwendete sie leuchtendes Kirschrot. Auf Nagellack verzichtete sie. Ihr Gesicht sollte die Blicke auf sich lenken. Die Finger nicht.
Sie spitzte den Bleistift, den sie unterwegs gekauft hatte, bis auf die halbe Länge herunter. Ein nagelneuer Bleistift war verdächtig.
Auf dem Fensterbrett benutzte sie den Radiergummi, der am hinteren Ende des Bleistifts in einer Metallfassung steckte. Sie rieb so lange damit über das Brett, bis er ebenfalls den Anschein häufigen Gebrauchs machte. Dann zog sie am Gummi und riss ihn aus der Halterung. Sorgfältig kratzte sie mit der Nagelfeile die restlichen Stücke heraus. Sie kürzte den Radiergummi an der Unterseite um einige Millimeter. In die leere Halterung füllte sie das Pentothalpulver und steckte den Radiergummi wie einen Pfropfen wieder darauf.
Sie entfernte die Papilloten. Das blonde Haar fiel jetzt in Kor kenzieherlocken und ließ sie aussehen wie ein junges Mädchen.
Als
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