Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
Vom Netzwerk:
sie mit der Schüssel wieder in die Küche hinunterstieg, schlug ihr ein widerwärtiger Geruch entgegen. Es stank nach Federn und Hühnerkot. Die Bäuerin lächelte ihr entgegen. »Du meine Güte, wie bezaubernd Sie aussehen, Miss May!« Sie hielt das Huhn in einen Topf mit kochendem Wasser.
    »Danke Ihnen.«
    Die Bäuerin holte das Huhn wieder heraus und begann, ihm die Federn auszurupfen. Die blutigen, kotigen Federn warf sie ins Waschbecken. Sie sagte: »Fangen Sie aber bitte keine Männergeschichten an. So etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Die jungen Leute sind verlottert durch den Krieg, das ist furchtbar. Wenn man bildhübsch ist wie Sie, May, muss man sich seine Grundsätze bewahren.«
    Möglich, dass sie am Ende gezwungen war, die Alte umzubringen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich weiß, wie ich Männer abblitzen lassen kann.«
    Sie beschirmte die Augen. Eine Lancaster schwebte herein, die Zwillingsflossen am Heck erhoben. Sonnenlicht drang durch das schusssichere Glas der Kanzel. Der Bomber landete auf dem Grasrollfeld und dröhnte die Landebahn hinunter, bis er schließlich verlangsamte und beidrehte. Die Rotoren kamen nach langem Auslauf zum Halt, und Männer in Fliegerjacken stiegen aus.
    Weitere Lancasterbomber standen in Reihen neben dem Rollfeld. Höllenmaschinen mit dreißig Metern Flügelspannweite, bereit, den Tod nach Deutschland zu tragen.
    Nachtauge wusste genau, in welche Phase der Krieg eingetreten war: Das Taumeln von Sieg zu Sieg war Vergangenheit, der Elan der deutschen Armeen gebremst. Nun galt es, sich in Europa festzusetzen und das Errungene zu halten.
    Es zu verteidigen. Und diese Phase wurde in der Luft entschieden.
    Nachtauge brach weitere Blütendolden vom Holunderbusch. Sie klopfte sie ab, um die kleinen Insekten herauszuschütteln. Sicher wurde sie längst beobachtet, es war wichtig, unverdächtig zu wirken. Einem Flugzeug nachzusehen wirkte völlig normal. Eingehend den Flughafen zu mustern, hingegen nicht.
    Scampton, dieser eine britische Flughafen unter vielen, war der Ort, der den Kriegsverlauf verändern konnte.
    Während sie ihr Gesicht in den duftenden Blüten versenkte, warf sie einen prüfenden Blick über das Gelände. Hangars, Bürogebäude, Unterkünfte und Kasinos mussten schon vor dem Krieg bestanden haben, andernorts standen bloß klapprige Notbauten an den Rollfeldern, hier war mit Friedensmaterial gebaut worden.
    Jugendliche Hilfskräfte vom Air Training Corps schleppten Sandsäcke, halfen in der Werkstatt und liefen als Boten vom Hangar zum Büro. Nur ein Bruchteil von ihnen würde je die blaue Pilotenuniform tragen, die meisten wurden einfach ausgenutzt. Aber sie zehrten von der Hoffnung, zu den wenigen Auserwählten zu gehören.
    Sie knickte weitere Dolden, beobachtete die Crew, die das Flugzeug verlassen hatte. Einige der Männer verabschiedeten sich. Sie ließen das Sergeantenkasino und die Unterkünfte links liegen und spazierten in die winzige Ortschaft hinein, zielsicher auf das Pub zu.
    Diese Männer waren ihr gleichgültig. Erst als sich die Tür des Offizierskasinos öffnete und Kenneth Fraser heraustrat, setzte sie sich in Bewegung. Sie sah sich nicht um, das brauchte sie nicht; sie wusste, dass Ken Fraser den Flughafenvorplatz überquerte und ebenfalls ins Pub kommen würde.
    Kenneth verließ das Offizierskasino. Er konnte Guy Gibson nicht mehr ertragen. Diesen Helden unter den Piloten, diesen Titanen, Acting Wing Commander, erst vierundzwanzig Jahre jung und doch schon erfahren wie ein Alter.
    Anfangs war Kenneth stolz darauf gewesen, von ihm geholt worden zu sein, ins Team der Besten: Briten, Australier, Neuseeländer, Kanadier, US -Amerikaner. Guy Gibson hatte jeden, den er wollte, gefragt, es ging um eine geheime Mission, und man konnte Ja oder Nein sagen.
    Natürlich hatte er zugesagt. Es war eine Ehre, im Geschwader von Guy Gibson zu fliegen. Und unerträglich. Das begriff er erst jetzt.
    Neben einem jungen Kerl wie ihm, der während seiner Ruhenächte auf eigene Faust Angriffe auf die Deutschen flog, der am Anfang des Krieges als Nachtbomberpilot eingesetzt war, dann als Ausbilder – in diesem Alter schon als Ausbilder! – und als Kampfpilot, neben einem Kerl, der über hundertsiebzig Feindeinsätze geflogen war, der sie mit seinen sechshundert Flugstunden alle an Erfahrung übertraf, da bekam man keine Luft. Gibson hatte zweifach das Distinguished Flying Cross erhalten, war mit dem Distinguished Service Order ausgezeichnet worden, vor

Weitere Kostenlose Bücher