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Nachtauge

Nachtauge

Titel: Nachtauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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ihm standen selbst die Vorgesetzten stramm. Wenn er jemanden in seinem Geschwader für unfähig hielt, dauerte es keine Stunde, und derjenige konnte seine Sachen packen und heimfahren.
    Und was er ihnen jetzt abverlangte, angeblich als Vorbereitung für den mysteriösen Angriff, war irrwitzig. Er forderte ein Training rund um die Uhr, und zwar in der Königsklasse: Tiefflug bei Nacht. Seit März übten sie, von Landmarke zu Landmarke zu fliegen, dicht über dem Boden, über England, über Schottland. Selbst am Tag hatten sie Nachtflüge zu absolvieren, er musste eine bernsteinfarbene Brille aufsetzen, und die Kanzel wurde von innen transparentblau beklebt. Nur der Bordingenieur trug keine Spezialbrille, damit er Kenneth war nen konnte, falls er ein Hindernis übersah. Das kam durchaus vor. Die elende Brille ließ alles beinahe zappenduster erscheinen. Bei dreihundertfünfzig Stundenkilometern brauchte er volle Konzentration, durch das verdammte Ding überhaupt etwas zu sehen. Tagsüber schaffte es ein guter Pilot, dicht über dem Boden zu fliegen, trotz all der Hügel und Strommasten und Fabrikschlote. Aber bei Nacht war es mörderisch. Und wenn man nach dem Drei-Stunden-Trainingsflug die Brille absetzte, sah alles rot aus, da half nur eine starke Sonnenbrille für ein, zwei Stunden, damit sich die Augen umgewöhnten.
    Und nun die Standpauke nach allem, was er geleistet hatte.
    Kenneth betrat den Pub. Er wusste, dass hier die vom siebenundfünfzigsten Geschwader hingingen, dass man einen wie ihn nicht gern dort sah. Aber das war ihm lieber, als sein Bier im Kasino zu trinken, wo Imperator Gibson Hof hielt.
    Er setzte sich an die Bar zu einem Mann in ölfleckiger Ingenieurskleidung. Diese Leute waren ihm noch am liebsten. Sie waren nicht so arrogant wie die Piloten.
    An dem Tisch direkt gegenüber saß eine hübsche Frau mit blonden Korkenzieherlocken, umgeben von Piloten des Siebenundfünfzigsten. Keiner von denen war älter als Mitte zwanzig. Ihre kurz geschnittenen Haare glänzten von Brylcreem, dieser Modemischung aus Brillantine und Pomade. Er hasste Brylcreemtypen. Was hatte eine Schönheit wie sie bei denen verloren?
    Sie lachten. »Du musst dich ja wehren«, sagte einer der Piloten, »sonst bringst du die Ladung nie ans Ziel. Letzte Woche hab ich einen abgeschossen, ich sage dir, das war ein Kampf auf Leben und Tod! Zuerst habe ich den Heckschützen erledigt, der hat mit seiner MG immer auf mich draufgehalten, aber es ging rechts und links vorbei, und zack!, hab ich ihn umgelegt, die ganze Kuppel ist weggeplatzt. Dann habe ich das Seitenleit werk beschossen. Endlich flog der Schwanz weg, und die Mühle ging runter. Man muss geschickt sein und reagieren können.«
    Sein Kamerad wollte mithalten und erzählte voller Stolz, wie sie einen ganzen Stadtteil von Dortmund »umgelegt« hatten, und das, obwohl sie wegen Regen kaum hundert Meter weit sahen. Haarklein malte er aus, wie er das Stadtzentrum verpasst habe, dann aber eine Steilkurve geflogen sei und »wenigstens den Bahnhof zusammengehauen« habe. Ein Zug sei vollständig ausgebrannt, und die Leute in alle Richtungen davongelaufen.
    Der Dritte am Tisch griff einfach nach ihrer Hand. »Ich habe mal Schiffe angegriffen, Lady, bin ziemlich steil aus den Wolken runter, habe geschossen. Dann fingen die an, zurückzuschießen. Da bin ich mit Vollgas wieder raufgezogen und weg. Hat Spaß gemacht!«
    »Na ja«, begann der Erste wieder, »wenn sich deutsche Piloten mit einem Fallschirm retten, dann lassen wir sie, das ist unsportlich, sie am Fallschirm zu erschießen. Obwohl es mich ja manchmal schon gereizt hat, vor allem, wenn die mir vorher meine Mühle durchlöchert haben. Aber wir sind keine Unmenschen, weißt du? Bei der Royal Air Force hat man Charakter.«
    »Nachts bombardieren, das ist eklig. Du weißt nicht richtig, wo du bist, und wenn du abgeschossen wirst, weißt du nicht, wo du hinfällst. Noch schlimmer ist es allerdings, wenn du Schwarzseher in der Crew hast. Ich bin mal in die Mühle eingestiegen, und der Bordfunker sagte: ›Fertigmachen zum Sterben!‹ Das kann ich gar nicht haben, wenn jemand so was ausspricht. Das bringt doch Unglück!«
    Sie entzog dem Helden der Lüfte ihre Hand, lächelte ihn jedoch an.
    »Wird euch das nicht manchmal zu viel, die Gefahr und die vielen Flüge?«
    Er seufzte. »Na ja, vier Einsätze hab ich noch, dann werde ich sowieso abgezogen.«
    »Warum?«, fragte sie.
    »Wir haben das Rotationssystem, nach siebenundzwanzig

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