Nachtblauer Tod
Shampoo getrunken, um sich auch von innen zu reinigen.
Dann fand er kein frisches Handtuch. Er nahm einfach das blaue, das an der Tür hing. Es roch ein bisschen nach Ben.
Wie Nebelschwaden hing der Wasserdampf im Raum. Leon öffnete ein Fenster.
Als er sich die rote Haut abrubbelte, hörte er Stimmen. Da war also außer Frau Fischer noch jemand, aber das war nicht die tiefe, sonore Stimme von Maik, sondern eine helle, unangenehme, wie eine Kreissäge.
Er wollte sich eigentlich die Haare trocken föhnen, aber darauf verzichtete er jetzt, stattdessen lauschte er an der Tür.
Er zog sich an. Das Badezimmerfenster war klein, aber er hätte es schaffen können, da hindurch nach draußen zu fliehen. Es gab auch durchaus eine Stimme in ihm, die ihn dazu aufforderte, aber er wollte nicht schon wieder abhauen.
Wohin auch? Er würde diesen Platz hier verteidigen.
Jeder Mensch braucht einen Ort, an dem er sein kann. Er würde um den hier kämpfen.
Vielleicht war das ja eine Freundin von Ulla Fischer und nicht die Polizistin Schiller oder Goethe oder wie die hieß.
Leon versuchte, so normal wie möglich an der Küche vorbeizugehen. Er war ein Freund des Hauses. Er durfte hier sein, sagte er sich selbst, atmete tief durch und trat fest auf, aber er kam nicht an der Küche vorbei. Frau Fischer rief eine Spur zu freundlich: »Hallo, Leon! Komm doch zu uns rein!«
Damit kündigte sich das Unheil für Leon drohend an. Das hier würde bestimmt kein Smalltalk werden. Diese Frau war nur gekommen, weil er hier war. Frau Fischer lockte ihn in die Arme der Fängerin.
Frau Diplom-Psychologin Müller-Felsenburg lächelte Leon breit an.
Strahlten ihre Augen wie die einer verliebten Frau oder eher wie die eines Raubtiers, das sein Opfer fixierte? Da war Leon sich nicht sicher.
Sie stand auf und hielt ihm die Hand hin. »Schön, dich zu sehen, Leon. Ich darf doch du sagen, oder?«
Leon nahm die Hand nicht. Er nickte nur. »Moin.«
Sie zog ihre Hand wieder zurück und fingerte – fast ein bisschen verlegen – in ihrer Handtasche herum. Sie fischte eine Visitenkarte heraus.
Dipl.-Psychologin Marianne Müller-Felsenburg, Bremerhaven, Karolingerstraße.
»Das war gestern ein schwerer, ein schrecklicher Tag für dich, Leon. Ich möchte dir mein ehrlich empfundenes Beileid aussprechen. Wir werden dich in dieser Situation nicht allein lassen. Du hast Anspruch auf jede erdenkliche Hilfe …«
Leon hörte nicht mehr zu. Die Stimme wurde zu einem Rauschen oder besser zu einem Sägen für ihn. Er empfand das Ganze als Verrat. Er hatte sich den Fischers anvertraut und irgendwer – vermutlich Frau Fischer – hatte ihn ans Jugendamt verpfiffen.
Beide Frauen spürten, wie die Wut in ihm aufstieg. Er hatte Mühe, nicht loszuschreien. Vorsichtshalber sagte er erst mal gar nichts, denn er befürchtete, auszuflippen.
Frau Müller-Felsenburgs Stimme erstarb, als hätte jemand der Säge den Strom abgestellt. In die Stille hinein sagte Frau Fischer: »Mit Frau Müller-Felsenburg können wir gemeinsam einen Hilfeplan für dich erarbeiten. Du brauchst nicht zu erschrecken. Ich weiß, das kommt alles sehr überraschend für dich, aber …«
»Soll ich in ein Heim, oder was?«, fragte Leon hart.
Frau Fischer starrte die Kaffeetasse an, als ob sie von dort eine Antwort erwartete.
Frau Müller-Felsenburg räusperte sich: »Nein, das ist keineswegs so. Die Fischers haben sich bereit erklärt, dich vorläufig aufzunehmen, bis die Situation geklärt ist.«
Jetzt schaffte Frau Fischer es, von ihrer Kaffeetasse aufzuschauen und Leon anzusehen. Sie nickte ihm zu.
Leon sah ihr an, dass es nicht ihre Idee gewesen war. Zum Glück kam in dem Moment Maik von der Nachtschicht zurück. Er sah müde aus, aber sein freundliches Lächeln tat Leon gut.
Maik murmelte etwas von: »… war eine harte Schicht. Es laufen so viele Verrückte in der Stadt rum …« Er klopfte Leon auf die Schultern und begrüßte erst Ulla, dann Frau Müller-Felsenburg.
»Wir werden schon klarkommen miteinander, was, Leon?«, sagte er. »Heute Nacht haben ein paar Jugendliche die Alarmanlage im Haus ihrer Eltern abgeschaltet, damit ihre Freunde den Vater bestehlen konnten. Wir haben sie trotzdem erwischt.« Er grinste. »Die Kameras liefen die ganze Zeit. Wenn man es mit solchen Kids zu tun hat, dann lernt man so nette junge Leute wie unseren Leon und Ben und Johanna erst wirklich zu schätzen.«
Kann ich nicht einfach zurück in unsere Wohnung …, wollte Leon fragen,
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