Nachtblüten
niemanden angerufen?«
»Nein. Da tut sich leider überhaupt nichts.«
»Dachte ich mir. Und ist er ausgegangen?«
»Auch nicht. Erst war er eine Weile im Laden, dann hat er zugesperrt. Kurz danach sah unser Mann ihn im ersten Stock die Fensterläden öffnen. Aber wenn er etwas unternimmt, erfahren Sie’s als erster.«
»Er ist zu gerissen für mich.«
Der Capitano lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte den Maresciallo forschend. »Der Staatsanwalt ist, wie gesagt, nicht dieser Ansicht.«
Der Maresciallo wollte sagen: »Sie dürften den Leuten kein falsches Bild von mir vermitteln, Ihnen keine übertriebenen Hoffnungen machen. Das ist nicht recht.« Aber er hatte zuviel Respekt vor seinem Vorgesetzten, um ihm offen zu widersprechen. Also blickte er finster auf seine linke Schuhspitze hinunter und sagte: »Morgen will er Falaschi und Giusti vernehmen. Ich bin sicher, er wird die Hintergründe aufdecken.«
»Ich dachte, sie hätten die beiden schon weichgekocht. Sie haben Ihnen doch gestanden, daß sie Signora Hirsch in Rinaldis Auftrag die Handtasche entrissen, ihre Schlüssel nachgemacht haben und bei ihr eingedrungen sind, um sie zu erschrecken.«
»Ach, ja. Das schon. Sie behaupten, er habe gesagt, sie sollten ihr Angst einjagen, damit sie die Kombination des Safes rausrückt. Und dann sollten sie eine Akte herausholen mit der Aufschrift ›Wohnungsunterlagen‹, sowie ihr Adreßbuch und alle vorhandenen Videos. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Autopsiebericht, der höchstwahrscheinlich nachweist, daß der Tod, den die Signora unter ihren Händen erlitt, ein Unfall war…«
Der Capitano wartete eine Weile, doch als weiter nichts kam, sagte er: »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen ganz folgen kann.«
»Nein, nein… das hat schon seine Richtigkeit so«, sagte der Maresciallo unglücklich. »Ich meine, die Fakten stimmen, aber was fangen wir damit an? Ich glaube, die beiden haben mir heute morgen alles gesagt, was sie wissen. Doch sie sind nicht sehr gescheit, wissen Sie, und ich bin’s natürlich auch nicht. Also können wir nur hoffen, daß der Staatsanwalt sich einen Reim auf die Sache machen kann, bevor…«
»Bevor?«
»Bevor das eintritt, womit Sara Hirsch gedroht hat. Und ich wieder zu spät komme. Das Geheimnis liegt in den Fotos. Ich würde Gott weiß was dafür geben, wenn ich ein Bild von Jacob Roth sehen könnte.« Der Maresciallo löste seinen trüb verhangenen Blick von seiner Schuhspitze und sah den Capitano an. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber er bekam das Bild nicht aus dem Kopf. Nicht das von Jacob Roth, auf das er sich konzentrieren wollte, sondern eines, das sich immer wieder davordrängte und nicht verscheuchen ließ. Eine zierliche Gestalt, taumelnd am Rand der Autobahn, die auf ihn zukam, sobald sie ihn sah, und, ein vertrauensvolles Lächeln auf den Lippen, vor das heranrasende Auto lief. Und sein Magen krampfte sich zusammen, als er wieder den dumpfen Aufprall hörte. »Ich habe in meinem Leben schon einiges mit angesehen, aber ich geniere mich nicht, Ihnen zu sagen…« Allein, er genierte sich doch, und er konnte nicht darüber sprechen.
»Haben Sie Lek Pictri gefunden?«
»Noch nicht, aber das dürfte nicht allzu schwer werden. Ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn jetzt schon verhaften will. Dem Mädchen ist damit nicht mehr geholfen, und wenn wir ihn noch eine Weile frei rumlaufen lassen, besteht immerhin die Chance, über ihn endlich auch an die Hintermänner heranzukommen.«
»Das stimmt. Seit dem Unfall ist sie auf dem geistigen Stand eines Kindes – und keine Mutter, die sich um sie kümmert…«
»Sie können nicht alle retten, Guarnaccia. Die Probleme sind zu groß und zu zahlreich. Und das Schlimmste daran ist, daß mit jedem solchen Vorfall die Rassenvorurteile zunehmen. Wir haben Jurastudenten aus dem Kosovo, die auf dem Bau arbeiten, Lehrer, die Fußböden schrubben, ein ganzes Heer von Vertriebenen, die all die niederen Arbeiten verrichten, für die wir Italiener uns zu schade sind, aber diese Menschen machen keine Schlagzeilen. Sie sind nachgerade unsichtbar. Die Öffentlichkeit erfährt nur von Diebstahl und Prostitution und Fällen wie dem dieses Mädchens, das aus dem fahrenden Auto geworfen wurde. Hoffen wir, daß sich die Lage auf dem Balkan früher oder später wieder beruhigt. Wir haben schließlich schon im eigenen Land zu wenig Soldaten, wie sollen wir da auch noch in Albanien für Ordnung sorgen. Außerdem verlangen unsere Jungs
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