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Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myra Çakan
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die unterschwellige Trauer und die Leidenschaft. Ich konnte es mir nicht erklären, ich dachte, ihn in die Arme zu nehmen und mit stummen Lippen zu trösten, würde helfen. Doch das Geheimnis war zu groß, die Wahrheit zu ungeheuerlich, um zwischen Liebenden ausgesprochen zu werden. Und jetzt bin ich da, jetzt erzähle ich seine Geschichte. Sicher, es ist auch meine Geschichte, aber Kierin ist der Held in ihr, und er verdient die gleiche Unsterblichkeit wie die Frauen der Mars-1-Mission.

    Sie begannen noch während meiner letzten Freischicht mit der Offensive, steckten jeden in die Särge, keine Pause, nicht mal zum Atemholen, nicht mal zum Denken. Achtundvierzig Stunden, ich war die Maschine, ich war gar nichts mehr, da war nur noch der Panzer, der durch die fremdartige Landschaft raste, Fernlenkraketen in einen rostroten Himmel feuerte, hundertzwanzig Millionen Kilometer von Station 7, von der Erde, der Realität.
    Über die Schläuche versorgten sie mich mit Drogen und Nährflüssigkeit. Ich spürte keine Müdigkeit, keine Schmerzen, in meinem Kopf kreiste nur ein Satz: Töte sie, ehe sie dich erwischen, verdammte Blauköpfe. Aber irgendwo war mein Bewusstsein, und tief verborgen, wie eine warme, sicherer Zuflucht, war sein Name und die Erinnerung an seine Zärtlichkeit, die mich davor bewahrte, in diesem Maschinensarg, dieser künstlichen Wirklichkeit, den Verstand zu verlieren.
    »He, Ablösung, O’Shea.«
    Harare packte mich an den Oberarmen und zog mich aus dem Sarg. Sie zog mir die Schläuche aus der Nase und den Venen. Die Zeit war nur noch ein Nebel, doch als sie mir die Drogen entzogen, wurde der Nebel rot, und Krämpfe warfen mich durch den Raum. Harare übergab mich der Wartung; alle Frauen, die nicht in meiner Schicht gewesen waren, wurden für die Offensive gebraucht. Mich brachten sie auf die Krankenstation, es hieß, ich hätte am Längsten von meiner Einheit durchgehalten. Über Verluste sprachen sie nicht. Ich wollte sie etwas fragen, doch meine Zunge hatte das Sprechen verlernt, und ich hatte die Worte vergessen.
    Sie gaben mir wieder Drogen, diesmal gegen die Schmerzen, und als die vergingen, begann meine Haut am ganzen Körper zu jucken. Sie banden mich fest, aber sie sprachen nicht zu mir, ich war noch immer nicht in ihrer Realität – würde ich es jemals wieder sein? Und irgendwann kam der Schlaf.

    Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, dass Kierin nicht mehr auf Station 7 war, dass er nicht einfach nur versetzt worden war.
    Ich wollte fragen, wollte Antworten – sie steckten mich wieder in den Sarg und machten mich zur Kampfmaschine. Und irgendwann war ich so durchgedreht, dass sie meinen zusammengekrümmten Körper nicht mal mehr auf die Krankenstation brachten.
    Ich kam in einer der gesperrten Sektionen zu mir. Ich öffnete die Augen und erwachte in einem schwarzen Alptraum. Es waren die Gerüche, die mich in die Realität brachten, verschmorte Isolierungen, der metallische Geschmack von verbrauchter Luft und Schweiß. Hände, die meinen Kopf hoben, mich fütterten, mein Gesicht mit einem kalten Lappen abrieben. Stimmen, die nicht mit mir sprachen. Andrej, Dieter, Thomas – Kierins Freunde, aber warum war er nicht bei mir?
    »Wo ist er?« Ganz langsam, nach jeder Silbe suchend, stellte ich endlich die Frage, fragte hinein in die Dunkelheit, in das Schweigen. Luft entwich, eine Schleuse hatte sich geschlossen. Ich war allein.
    Wortfetzen schwappten an den Rand meines Bewusstseins, das sich weigerte, aus dem Gehörten Sätze zu bilden. Geflüsterte Andeutungen – besser nicht laut aussprechen – ich weiß – wurde nicht versetzt – alle seine Sachen sind verschwunden – seit Wochen hat kein Shuttle mehr angedockt. Nein, sie meinen nicht Kierin, sie reden über jemand anderen, jemand, dessen Namen nur ähnlich klingt. Du musst nur fest daran glauben, dann ist alles nur ein Teil deines Traumes. Nein, ich war nie gut im Lügen, war nie gut im Fragen.
    Die Ungewissheit brachte mich fast endgültig um den Verstand. Ungewissheit und Einsamkeit. Doch schließlich wurde die Dunkelheit zu Nebel, und aus dem Nebel wurde Schatten. Ich konnte ihre Gesichter sehen, und sie sprachen immer noch nicht zu mir. Sie sahen einfach durch mich durch. Ohne Kierin wurde ich wieder zum Außenseiter, zum Astronautengroupie. Ich hatte ihnen ihren Helden genommen, ich war Schuld, und niemand wusste, wie schuldig ich mich fühlte.
    Nur einer, der Deutsche, sprach aus, was sie alle dachten: »Du warst nicht

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