Nachtchimäre - Fragmente der Dunkelheit (German Edition)
müsste sie vor dem Bösen in ihr selbst schützen. Also nur um das nochmal klarzustellen: „Das Böse“ war bereits in uns, als wir auf die Schule kamen.
„ Sam“ war ein herzensguter Mensch und niemandem böse gesonnen. Ihr einziges „Problem“ war ihre Hautfarbe. Das mag jetzt rassistisch klingen, ist aber so. Ständig wurde sie das Opfer von kleinen „Scherzen“ und von Vernachlässigungen. Sei es nun, dass sie am wenigsten zu essen bekam oder dass ihre Hausaufgaben oder Schuhe auf unerklärliche Weise verschwanden. Sam sagte nicht viel dazu, ich aber wurde wütend und beschimpfte unsere Klassenkameraden als Rassisten und verlogene Möchtegernchristen. Sie reagierten genauso, wie man es von engstirnigen Menschen erwarten konnte, und ließen mich nun mit spüren, was es hieß, ein Verräter an der eigenen Rasse zu sein.
Weder der Lehrkörper noch Pater Lawrence taten etwas dagegen. Sie sagten, es würde sich schon einrenken und Christus hätte schließlich ein großes Herz für alle Christenmenschen. Wir müssten halt einfach Vergebung lernen. Von mir aus, also lernten wir Vergebung und auch „die rechte Wange hinzuhalten“, aber das stachelte die Menge nur umso weiter an. Bis, ja, bis es zu spät war.
Sam starb in meinen Armen nach dem Überfall durch die sauberen Mitbrüder und Mitschwestern. Natürlich wurde alles vertuscht, aber für mich war mit Sams Tod endgültig das Vertrauen in die Welt und in die „christliche Nächstenliebe“ gestorben. Sie hatten eine regelrechte Hexenjagd im Namen des Herrn veranstaltet und niemand war eingeschritten.
Ich starre an die Decke, das kleine Technikwunder fest von meinen Fingern umschlossen. Nur langsam wird mir bewusst, dass die Erinnerung mich aus ihren Klauen zu entlassen scheint, denn die Bilder, die sie begleiten, sind nur noch bruchstückhaft. Es ist beinahe so, als wenn man einen alten Film auf einem HD Plasmabildschirm sieht und sich nicht losreißen kann, obwohl die Handlung weder einen Spannungsbogen aufweist noch durch andere Qualitäten glänzt.
Passend dazu springt die Jukebox in meinem Kopf an und gibt Not meant for me von Static-X zum Besten. „You think you’re smart. You’re not. It’s plain to see, that you want me to fall off. It’s killing me. Let’s see you’ ve got the gall, come take it all …”
Als ich mit etwa 14 Jahren aus der Schule entlassen wurde, war meine Abscheu vor dem großen Kreuz auf dem Dach, den Priestern und den Nonnen, die uns unterrichtet hatten, so groß geworden, dass ich es nicht mehr erwarten konnte, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Mein Vater hatte mich nicht einmal besucht in all diesen Jahren.
Nicht einmal zu Sams Beerdigung war er gekommen. Ich hatte nur einen Brief von ihm bekommen. Ganz so wie zu Geburtstagen und zu Weihnachten auch. Auch dieses Mal stand der eine Satz darin, den er immer schrieb: „Egal was du tust Christa, Christus und so auch Gott schauen immer zu.“ Ich konnte ihn nicht mehr sehen! Zugegeben, anfangs hatte er mich sehr eingeschüchtert. Aber nach diesen Jahren kam er mir absolut albern vor. Nichts als Worthüllen eines verblendeten Geistes. Auch Pater Lawrence sprach in seiner Predigt an Sams Grab über Christi Gerechtigkeit und dass die wahren Täter durch ihn bestraft würden.
Irgendwie sah er mich dabei von der Seite an. Zu diesem Zeitpunkt galt ich nämlich als unheilbare Querulantin, die mehr Zeit in einer Gebetskammer verbrachte als am regulären Unterricht teilzunehmen. Sein Blick traf mich bis tief in mein geschundenes Inneres und plötzlich hatte ich einen Geistesblitz. Vielleicht sprach er ja von mir. War mein Name nicht Christina Justicia?
Zum ersten Mal erkannte ich meine wahre Bestimmung und warum ich diesen Namen trug. Wenn Christus schon nichts gegen das Unrecht tat, das mir und Sam widerfahren war, dann lag es wohl daran, dass er erwartete, dass ich es selbst täte. Endlich erkannte ich, dass Christus’ Zorn beziehungsweise Gerechtigkeit für mich keine hohlen Phrasen sondern der Auftrag meines Lebens waren. Festgehalten und dadurch buchstäblich in Gestein gemeißelt wie die Zehn Gebote.
Als ich es damals zum ersten Mal erkannte, musste ich bitter über diesen Wink des Schicksals lachen; und ich entwickelte infolge dieser ersten Erkenntnis einige perfide Methoden, meinen Mitschülern das Leben regelrecht zur Hölle zu machen. Christi Gerechtigkeit. Oh ja, sie kam über sie wie der Sturm über die blühende Steppe …
Sagen wir einfach, ich
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