Nachte des Sturms
Alice Mae, ich komme sofort mit.«
»Nein, das tust du nicht«, verbesserte Brenna und versperrte ihr den Weg. »Du wirst heute in die Spätmesse müssen.«
»Was du sagst, ist mir vollkommen egal.«
»Entweder kommst du mit und klärst, da ich Ma versprochen habe, dass wir heute hier drin nicht streiten werden, diese Angelegenheit außerhalb des Hauses, oder aber du schmollst einfach immer weiter wie ein kleines Kind. Für den Fall, dass du dich dafür entscheidest, dich wie eine Erwachsene zu verhalten, warte ich im Hof.«
Es dauerte weniger als fünf Minuten, bis Mary Kate betont gelassen aus dem Haus geschlendert kam und sich auf den Beifahrersitz von Brennas kleinem Laster schwang. Sie hatte zusätzlich Lippenstift aufgetragen, bemerkte Brenna, als sie das Fahrzeug auf die Straße lenkte. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, weshalb so viele Frauen Schminke als eine Art Schutzschild oder gar Waffe ansahen.
Allerdings hatten sich schließlich bereits ihrer aller Vorfahren mit blauer Farbe angemalt, bevor sie sich schreiend ins Kampfgetümmel stürzten.
Da der Parkplatz des Cliff Hotels neutraler oder vielleicht sogar eher Katies Boden war, fuhr sie dorthin, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, sprang behände aus dem Wagen und ging in dem Wissen, dass ihre Schwester ihr folgen würde, einfach los.
»Und wo gehen wir hin?«, fragte Mary Kate mit böser Stimme. »Irgendwohin, wo du mich von den Klippen stürzen kannst?«
»An einen Ort, von dem ich denke, dass wir beide ihn genügend respektieren, um uns weder anzuspucken noch uns die Haare auszureißen.«
Sie folgte dem Weg über die Klippen, wo der Wind noch beißend kalt war. Es schien, als sei der Winter doch noch nicht bereit, sich dem Frühling zu ergeben. Trotzdem schoben sich hier und da die ersten Blumen aus der Erde, und die ersten kleinen Vögel zwitscherten fröhlich.
Sie passierten die Ruine der einst im Namen des heiligen Declan erbauten Kathedrale, den Brunnen und die drei steinernen Kreuze, bis sie die Stelle erreichten, die den Toten und ihrem Gedenken vorbehalten war.
»Das hier ist heiliger Boden«, setzte Brenna an. »Und während ich hier stehe, sage ich dir, dass ich dir Unrecht getan habe. Du bist meine Schwester, in unseren Adern fließt dasselbe Blut, und trotzdem habe ich auf deine Gefühle keine Rücksicht genommen. Es tut mir wirklich Leid.«
Die Tatsache, dass diese Erklärung sie vollkommen überraschte, entfachte aufs Neue Katies Zorn. »Denkst du etwa, damit ist der Fall für mich erledigt?«
»Ich denke, das ist alles, was ich dazu sagen kann.«
»Und, verzichtest du auf Shawn?«
»Ich dachte, dass ich es tun würde«, sagte Brenna langsam. »Aber dabei ging es mir vor allem um meinen eigenen Stolz. Ich dachte, ›Ihretwegen werde ich auf ihn verzichten, und dann wird sie erkennen, dass ich mich für sie geopfert habe, nur, damit sie weiter glücklich ist‹. Außerdem wollte ich aus meinem Schuldgefühl heraus auf ihn verzichten. Einem Schuldgefühl deshalb, weil ich etwas getan
habe, was dich verletzt hat. Und durch das Ende meiner Beziehung zu Shawn hätte ich für diese Tat gebüßt.«
»Ich würde meinen, dein Verhalten gibt eher Anlass zu Schuldgefühlen als zu irgendeiner Art von Stolz.«
Brennas Augen blitzten zornig auf. Doch sofort riss sie sich zusammen. Sie kannte ihre Schwester und wusste, dass Mary Kate, wenn sie stritt, es beinahe immer schaffte, ihren Gegner derart aus der Reserve zu locken, dass er einfach nicht mehr nachdachte.
»Ich habe keine Schuldgefühle wegen der Dinge, die zwischen mir und Shawn passiert sind, sondern einzig deshalb, weil unsere Beziehung dich verletzt und in Verlegenheit gebracht hat.« Ihre kühle Stimme verstärkte noch die Wirkung ihrer Worte. »Und deshalb war ich anfänglich bereit, unser Verhältnis und vielleicht sogar unsere Freundschaft zu beenden. Aber dann habe ich mal darüber nachgedacht und bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich mich dann dir gegenüber verhalten würde wie eine nachgiebige Mutter gegenüber einem starrsinnigen Kind, und dass ich dadurch dich und deine Gefühle ebenfalls wohl kaum respektieren würde.«
»Du drehst und wendest die Dinge einfach solange, bis du am Ende genau das kriegst, was du willst.«
Plötzlich hatte Brenna das Gefühl, als sei sie nicht vier, sondern vierzig Jahre älter. All das Streiten machte sie unerträglich müde. Ihre Schwester hatte Tränen in den Augen, heiße Tränen des Hasses und des Zorns,
Weitere Kostenlose Bücher