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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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jemand von der Buchhandlung, der ihr mitteilte, dass ihr Buch zum Abholen bereitliege.
    Verdammt, Luke! Er hatte Zeit genug gehabt, über ihre Nachricht nachzudenken. Bestimmt wusste er genau, wie sie sich fühlte. Er hätte sie anrufen sollen. Sie stieß ihre Tasche mit einem wütenden Tritt zur Seite, was zur Folge hatte, dass ihr Fuß schmerzte, sie noch wütender wurde und sich außerdem ziemlich idiotisch vorkam. Sie kochte eine Kanne Tee, setzte sich an den Tisch und ließ die Stille im Haus auf sich wirken.
    Sie würde Luke Zeit geben müssen, sich zu besinnen. Den ersten Schritt hatte sie getan. Vielleicht wollte er mit niemandem reden. Sie durfte einfach nicht mehr daran denken. Sie holte ihre Aktentasche und suchte die Notizen, die sie bei dem Gespräch mit Marcus Holbrook gemacht hatte. Es war nicht viel – nur die Zeilen, die sie von der Niederschrift abgeschrieben hatte, und die Übersetzungen dazu, die er ihr gegeben hatte. Aber es konnte einfach nicht sein, dass sie einen Fehler gemacht hatte, dass sie ›da etwas durcheinander gebracht‹ hatte. Sie erinnerte sich. Sie hatte Holbrook nicht die komplette Niederschrift gezeigt, sondern nur die Zeilen abgeschrieben, mit denen Gemma Schwierigkeiten gehabt hatte. Sie verglich sie mit dem Original: Sie hatte sie richtig abgeschrieben. Marcus Holbrook hatte ihr die Stellen falsch übersetzt. Warum?
    Sie tippte mit dem Stift gegen die Zähne, während sie überlegte. Holbrook war sehr empfindlich. Vielleicht wollte er einfach verhindern, dass sie den Eindruck hatte, er habe auf dem Band etwas nicht verstanden. Aber sie fand das nicht überzeugend. Sie überlegte, ob sie zu ihm gehen und noch einmal mit ihm sprechen solle. Sie war sich klar, dass sie nicht viel über Holbrooks Arbeitsgebiete wusste – nur dass er irgendwie ein Experte für Russisch war. Sie ging zu ihrem Computer und loggte sich ins Intranet der Universität ein. Abends war nicht so viel los, und die Computer arbeiteten schnell. Sie suchte im Bibliothekskatalog nach Holbrooks Namen. Die Suche erbrachte eine ziemlich lange Liste von Büchern und Aufsätzen sowie einige neuere Zeitschriftenartikel. Die Bücher hatten recht vage Titel, und bei den Zeitschriftenartikeln schien es sich hauptsächlich um detaillierte Analysen von Veränderungen im modernen Russisch zu handeln. Ein kürzlich erschienener Titel fiel ihr auf. Der Einfluss des Bilingualismus auf nenzisch sprechende Kinder: eine Fallstudie. Nenzisch – die Sprache, die Gemma für ihre Doktorarbeit untersucht hatte. Der Artikel war von Holbrook selbst, von einem Stefan Nowicki und – von Gemma Wishart verfasst! Die Zeitschrift war letzten Sommer herausgekommen, was hieß, dass der Artikel einige Zeit früher geschrieben worden war, als Gemma noch in Sibirien gewesen war. Holbrook und Gemma hatten zusammen an einem Zeitschriftenartikel gearbeitet, und doch hatte Holbrook so getan, als kenne er sie kaum.
    Dann fiel ihr der andere Name ins Auge. Nowicki war der russische Gelehrte, der geholfen hatte, Gemmas Forschungsarbeiten zu betreuen. Das mochte eine Erklärung sein. Wahrscheinlich hatten Holbrook und dieser Mann zusammengearbeitet. Sie hatten Teile von Gemmas Arbeit und ihre Ideen genutzt, deshalb stand ihr Name dabei – vielleicht hatte sie sogar einiges davon geschrieben –, aber Holbrook hatte sich wahrscheinlich nicht selbst um diese junge Nachwuchswissenschaftlerin gekümmert. Allerdings erklärte das immer noch nicht, warum er sie in Bezug auf das Tonband in die Irre geführt hatte.
    Mit dem frustrierenden Gefühl, das sie immer befiel, wenn sie ein ungelöstes Rätsel auf sich beruhen lassen musste, steckte sie alles in ihre Aktentasche zurück. Sie hatte die Sache so weit verfolgt, wie sie konnte. Sie machte sich etwas zu essen und verbrachte dann eine Stunde mit Aufräumen, was dringend nötig war, stellte die Bücher und Zeitschriften, die überall herumlagen, an ihren Platz auf den Regalen, saugte an den schlimmsten Stellen den Teppich und wusch ab. Als sie den Küchentisch aufräumte, fand sie den Brief ihrer Schwiegermutter, den sie dort hatte liegen lassen, damit er sie an die bevorstehende Entscheidung erinnerte. Fast hätte sie ihn dort abgeheftet, wo sie alle Briefe von Jenny aufhob, aber dann nahm sie ihn und las ihn noch einmal. Jennys Vorschlag war in der Wortwahl fast zaghaft: Warum besuchst du ihn nicht, Roz, nächstes Mal, wenn er nach Hause kommt? Ich hoffe, dass genau so etwas der Auslöser sein

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