Nachtflamme: Roman (German Edition)
»So viele Leute gab es hier sechzehnhundertzweiundfünfzig gar nicht. Warum kann ich denn nicht die richtigen finden?«
Gegen Mittag hatte Layla den beiden anderen Frauen alles berichtet, was sie wusste. Sie schlüpfte in eine graue Hose und hochhackige Stiefel und bereitete sich auf ihren Nachmittag in der Kanzlei vor.
Als sie dorthin ging, stellte sie fest, dass das Schaufenster des Geschenkladens ausgetauscht worden war. Cals Vater war ein gewissenhafter Vermieter, und sie wusste, dass man ihn im Ort sehr schätzte. Aber sie sah auch das große, handgeschriebene Schild im Schaufenster, auf dem »Geschäftsaufgabe« stand.
Es war eine Schande, dachte sie, als sie weiterging. Das Leben, das sich die Leute aufbauten, brach ohne ihre Schuld einfach zusammen. Manche resignierten, andere krempelten immer wieder die Ärmel hoch und begannen von Neuem.
Auch bei Ma’s Pantry war das Schaufenster ausgetauscht worden, ebenso wie an anderen Läden und Häusern. An der Buchhandlung arbeitete ein Mann in einer ausgebleichten Jeansjacke. Er baute eine neue Tür ein. Gestern war die Tür noch völlig zerkratzt, das Schaufenster zerbrochen gewesen. Jetzt war alles wieder frisch und neu.
Als sich der Mann umdrehte und sah, dass sie ihn beobachtete, lächelte er. Laylas Herz machte einen Satz. Es war Fox’ Lächeln. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte Halluzinationen, aber dann fiel ihr ein, dass Fox’ Vater ja Schreiner war. Grüßend hob sie die Hand und erwiderte sein Lächeln.
War es nicht interessant, einen Blick darauf werfen zu können, wie Fox B. O’Dell in zwanzig Jahren aussehen würde? Sehr, sehr gut auf jeden Fall.
Sie lachte immer noch leise vor sich hin, als sie in Fox’ Kanzlei kam und Alice ablöste.
Da sie das Büro für sich alleine hatte, legte sie eine Michelle-Grant-CD ein, als sie sich an die Arbeit machte, die Alice ihr hinterlassen hatte. Wenn das Telefon klingelte, schaltete sie sie auf stumm.
Nach einer Stunde hatte sie den Schreibtisch aufgeräumt und Fox’ Terminkalender auf den neuesten Stand gebracht. Da sie das Büro immer noch als Alices Domäne betrachtete, widerstand sie der Versuchung, auch den Vorratsraum und die Schreibtischschubladen nach ihren Bedürfnissen umzuräumen.
Stattdessen nahm sie ein Buch zur Hand, in dem es um eine lokale Version der Legende des Heidensteins ging.
Sie sah ihn auf der Lichtung vor sich stehen. Wie ein Altar ragte er aus der verbrannten Erde, düster und grau. Fest, dachte sie, als sie das Buch durchblätterte. Ein Zentrum der Macht.
Sie fand nichts Neues in dem Buch – die kleine puritanische Ansiedlung, die von Hexerei, einem tragischen Feuer, einem plötzlichen Sturm erschüttert wurde. Sie hätte besser eins von Ann Hawkins’ Tagebüchern mitgebracht, dachte sie, aber sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, sie aus dem Haus zu entfernen.
Sie legte das Buch weg und versuchte es im Internet. Aber auch da fand sie nichts Neues. Was Recherche anging, waren Quinn und Cybil sowieso besser als sie. Ihre Stärke lag eher im Organisieren, im logischen Verbinden der einzelnen Punkte. Und im Moment gab es einfach keine neuen Punkte, die sie verbinden konnte.
Ruhelos stand sie auf und trat ans Fenster. Sie musste etwas zu tun haben, etwas, das ihre Hände und ihren Verstand gleichermaßen beschäftigte.
Entschlossen drehte sie sich um, um Quinn anzurufen. Sie hatte bestimmt eine Aufgabe für sie.
Die Frau stand vor dem Schreibtisch, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Sie trug ein graues, hochgeschlossenes Kleid mit langem Rock und langen Ärmeln. Ihre hellblonden Haare hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
»Ich weiß, wie es ist, ungeduldig und ruhelos zu sein«, sagte sie. »Ich konnte auch nie lange ohne Beschäftigung dasitzen. Er sagte mir immer, dass auch in der Ruhe Sinn läge, aber mir fiel das Warten so schwer.«
Geister, dachte Layla. »Bist du Ann?«
»Das weißt du doch. Du lernst noch, dir und deiner Gabe zu vertrauen. Aber du weißt es.«
»Sag mir, was ich tun soll, sag uns, was wir tun sollen, um es zu beenden. Um den Dämon zu zerstören.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Es liegt auch nicht in der Macht meines Geliebten. Ihr müsst es entdecken, ihr, die ihr Teil davon seid, Teil von mir und meinen Nachfahren.«
»Ist das Böse in mir?« Oh, wie die Frage Layla auf der Seele brannte. »Kannst du mir das sagen?«
»Es ist das, was du daraus machst. Kennst du die Schönheit des Augenblicks?« Trauer
Weitere Kostenlose Bücher