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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Muskeln verkrampften sich im Widerstand. Er blinzelte und fühlte sich einer Ohnmacht nahe, sein Blickfeld verengte sich. Und in diesem Augenblick wusste er es.
    Reißzahn wusste, was er gleich tun würde und dass, wenn es einmal getan war, die Dinge nie mehr so sein würden wie zuvor. Er blickte sich um. Niemand beobachtete ihn. Er sprang, landete auf dem Paramus, begrub ihn unter sich mit seinem größeren Gewicht und stieß seine Schnauze in die Erde, um sein Quietschen zu dämpfen. Instinktiv bohrte er seine Krallen in den Körper, um ihn an Ort und Stelle zu halten, dann schlug er sein Maul um den Nacken des Tiers und biss zu. Der Paramus schüttelte sich heftig, zitterte kurz, dann blieb er bewegungslos liegen. Reißzahns Pulsschlag raste durch seinen ganzen Körper. Er hatte es getan. Er hatte getötet. Er hob den Kopf, um das tote Wesen mit den weit aufgerissenen Augen anzusehen. Hatte ihn irgendjemand beobachtet? Schnell zog er den Paramus hinter einen Lorbeerbusch. Dann riss er das weiche Fleisch am Bauch auf. Das Fleisch und die Eingeweide dampften und leisteten seinen Zähnen kaum Widerstand.
    Gierig fraß er. Es schmeckte ganz anders als Saurierfleisch, wärmer und saftiger, voller Blut. Es war berauschend. Er fraß und fraß.
    Endlich gesättigt, scharrte er Blätter über das Gerippe und spähte durch das Unterholz, bevor er wieder auftauchte. Sein Festmahl hatte ihn durstig gemacht und so schlich er hinunter zum Fluss. Die ruhige Wasseroberfläche spiegelte sein Gesicht. Die Schurrhaare waren mit Blut überzogen.
    Er hatte ein anderes Tier getötet. Er hatte das Fleisch gefressen und den Geschmack genossen.
    Schnell tauchte er das Gesicht ins Wasser, um sich nicht selbst ansehen zu müssen.

Kapitel 6
Die Expedition
    V oller Neid sah Dämmer zu, wie der Suchtrupp seiner Mutter in den Wald davonsegelte. Die Sonne hatte kaum den Horizont erhellt, und die Gruppe seines Vaters war bereits aufgebrochen, zusammen mit mehr als einem Dutzend anderer, die alle verschiedene Ziele an der Küste hatten.
    Früher am Morgen hatte Dämmer einen letzten Versuch unternommen und seinen Vater angebettelt, ob er nicht doch mitkommen könnte. Er erinnerte ihn daran, dass er selbst gesagt habe, es gebe sowieso keine Sauriernester auf der Insel, sodass es vollkommen sicher sei, und warum er und Sylph dann nicht auch mitdürften? Er dachte, das sei ein richtig gutes Argument, und Sylph fand das auch, zumal sie sich das selbst überlegt hatte.
    Aber sein Vater hatte einfach nur wieder Nein gesagt, und ihre Mutter meinte zu ihm und Sylph, sie sollten schön brav sein und beim Baum bleiben, bis sie alle am Abend zurückkämen. Bruba, eine ältere Schwester, die Dämmer kaum kannte, sollte ein Auge auf sie haben.
    »Das wäre für uns wahrscheinlich die erste und letzte Gelegenheit, einen waschechten Saurier zu sehen«, sagte Sylph, während sie beide über die Lichtung segelten und halbherzig jagten.
    »Wir haben schon einen gesehen«, erinnerte Dämmer sie.
    »Der war aber tot«, sagte sie. »Oder praktisch tot.«
    Weit unten konnte Dämmer den Quetzal riechen, der allmählich anfing, in den Bäumen zu verwesen. Aus irgendeinem Grund mochte Dämmer nicht daran denken, wie er von Insekten und Aasfressern bis auf die Sehnen und Knochen abgenagt werden würde.
    »Möchtest du denn kein Nest sehen?«, fragte Sylph. »Mit Sauriereiern?«
    »Es gibt wahrscheinlich gar keine mehr«, sagte Dämmer.
    »Aber vielleicht doch.« Sylph blickte ihn an. »Was meinst du?«
    »Was?«
    »Lass uns selbst nachsehen.«
    »Wir verirren uns nur«, sagte Dämmer, aber er war bereits interessiert.
    »Wir fliegen einfach hinterher«, sagte Sylph und deutete mit einer Kopfbewegung zum letzten Suchtrupp, der gerade vom Ast startete.
    Dämmer merkte sich ihre Richtung. »Wir müssen aber weit hinter ihnen bleiben«, flüsterte er. »Wenn wir erwischt werden …«
    »Werden wir nicht«, sagte Sylph. »Wir folgen ihnen einfach, verstecken uns und beobachten sie, während sie die Küste absuchen.«
    »Und was ist mit Bruba?«, fragte Dämmer.
    »Sie hat zwei Dutzend Neugeborene, auf die sie aufpassen soll, dazu noch ihre beiden eigenen. Sie wird sich kaum um uns kümmern. Außerdem kann sie uns, glaube ich, gar nicht auseinanderhalten. Heute Morgen hat sie mich dreimal anders genannt.«
    Dämmer kicherte nervös. Er wollte keinen Ärger bekommen. Sylph war ja daran gewöhnt, Probleme zu haben, er aber nicht. Sein äußeres Erscheinungsbild zog genügend

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