Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
beschwerte sich Sylph.
    »Die Schatten sind hier aber auch so dunkel«, wehrte er sich und dann hatte er eine Idee.
    Er schloss die Augen, atmete tief ein und stieß eine lange Salve von Schnalzern aus. Danach wartete er ab und beobachtete im Kopf, wie die Echos zu ihm zurückkehrten. Zuerst zeigte sich ein Gewirr aus Ästen und Baumstämmen, und dann, einen Augenblick später, kam ein helles Aufflackern von ausgebreiteten, leicht schimmernden Segeln.
    »Ich sehe sie!« Er machte die Augen auf.
    »Mit deinen Echos?«
    Er nickte. »Sie sind direkt vor uns.«
    Sie schloss die Augen und schickte einen Schnalzerhagel los, runzelte aber dann bloß die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie du das machst. Hast du Mama oder Papa danach gefragt?«
    »Dazu war keine Zeit.«
    Sylph grunzte. »Na ja, das nützt uns jetzt natürlich schon was.«
    Sie segelten weiter hinter den Chiroptern her. Ein Vogel flatterte vorbei, flitzte zum Himmel und Dämmer beobachtete ihn mit der immer gleichen Wehmut.
    »Hast du«, fing er zögernd an, »schon mal davon geträumt, zu fliegen?«
    Er hatte niemals jemandem gegenüber seine Träume auch nur angedeutet, weil sie ihm irgendwie Schuldgefühle bereiteten. Aber vielleicht war das ja dumm von ihm, weil alle manchmal solche Träume hatten.
    Sylph sah zu ihm herüber. »Nein«, sagte sie.
    »Wirklich? Niemals?« Er war enttäuscht.
    »Nie. Und du?«
    »Ein- oder zweimal«, log er und bedauerte, dass er das Thema angesprochen hatte.
    Sylph antwortete nichts.
    »Du glaubst, dass ich eine Missgeburt bin, stimmt’s?«, fragte er unglücklich.
    »Nein, keine Missgeburt. Du bist nur … anders.«
    »Ich fühle mich auch anders«, gab er zu. Hier, mitten im Wald, weg von ihrem Baum, konnte er ehrlicher sprechen. »Zumindest glaube ich, dass ich das tue. Es ist so schwer zu wissen, was normal ist. Findest du dich normal?«
    »Ich denke schon«, sagte Sylph.
    Dämmer suchte nach den richtigen Worten. »Du hast nie das Gefühl, dass du etwas anderes sein solltest?«
    »Wovon redest du überhaupt?«, fragte Sylph aufgebracht.
    »Willst du nicht manchmal …« Dämmer verlor den Mut und brach ab.
    »Was?« Sie schrie schon fast, und Dämmer befürchtete, die anderen Chiropter würden sie hören. »Sag’s mir!«
    »Ist ja gut, ist ja gut«, flüsterte er. »Wünschst du dir manchmal, dass du fliegen kannst?«
    Er achtete genau auf ihr Gesicht.
    »Das geht nicht«, sagte sie.
    »Aber wünschst du es dir manchmal?«, fragte er beharrlich.
    »Ja, sicher. Aber wir können nicht fliegen, warum also Zeit damit verschwenden, darüber nachzudenken?«
    Dämmer sagte nichts. Sylph klang wie ihre Mutter und das überraschte ihn.
    »Du bist anders, Dämmer. Aber du bist nicht so sehr anders. Glaubst du denn jetzt, du könntest fliegen?«
    »Nein, nein«, sagte er hastig. Er hatte ihr nie von seinen geheimen Versuchen auf dem Oberen Holm erzählt.
    »Das würde ich aber sonst niemandem erzählen«, meinte sie. »Das ist genauso, als würdest du sagen, dass du dir wünschst, ein Vogel zu sein.«
    »Ich möchte kein Vogel sein«, betonte er. »Es war nur, als ich den Saurier gesehen hab …«
    Sylph schnappte nach Luft. »Willst du ein Saurier sein?«
    »Nein! Aber seine Flügel haben irgendwie so wie meine ausgesehen, und da habe ich mich einfach gefragt: Wenn der fliegen kann, warum dann nicht ich?«
    »Willst du kein Chiropter sein?«
    »Natürlich will ich das sein. Ich wünsche mir nur einfach, ich könnte auch fliegen.«
    Schweigend zogen sie weiter. Gleiten. Klettern. Gleiten. Unter ihnen wuselten Grundlinge durch das Unterholz. Sie taten Dämmer leid, sie mussten schrecklich schmutzig werden, wenn sie immer in der Erde wühlten. Er betrachtete die Bäume genauer. Er sah neue Arten, manche mit breiten Blättern, die im leichten Wind raschelten. Er sah neue Moosarten und Flechten, die an den Bäumen hingen, und Blumen, die er noch nie vorher gesehen hatte. Von keiner kannte er den Namen. Es traf ihn, wie wenig er wusste, wie wenig er gesehen hatte. Der fliegende Saurier und die Geschichten seines Vaters aus der Vergangenheit hatten ihm das schmerzhaft bewusst gemacht. Er lebte in einem Baum auf einer Lichtung in einem Wald auf einer Insel und die ganze Welt erstreckte sich ungesehen um ihn herum. Der Gedanke daran erregte ihn und erschreckte ihn zugleich.
    Während er auf einem Ast hockte und sich vom Klettern ausruhte, bemerkte Dämmer, dass vor ihnen Licht zwischen die Bäume fiel.
    »Das muss

Weitere Kostenlose Bücher