Nachtflügel
eine Lichtung sein«, meinte Sylph.
»Das ist keine Lichtung!«, rief Dämmer. Er warf sich von dem Ast und rief zu seiner Schwester zurück: »Es ist das Meer!«
Eine Brise spielte in seinem Fell und trug ihm einen ungewohnten Duft zu. Die anderen Chiropter vor ihnen konnte er nicht mehr sehen, und er nahm an, dass sie die Küste bereits erreicht hatten und nun auf der Suche waren. Nur um sicherzugehen, wich er von dem Kurs ab, den sie eingeschlagen hatten, und hielt sorgfältig Ausschau. Er wollte nicht mitten in sie hineinfliegen.
Als sie sich den letzten Bäumen näherten, musste Dämmer im Licht blinzeln. Nach der Düsternis des Waldes war es geradezu blendend. Dann entdeckte er einen Ast mit vielen Blättern, hinter denen sie sich verstecken könnten, und sie landeten. Nebeneinander schoben sie sich auf dem Ast weiter vor, um einen guten Aussichtspunkt zu finden.
Und dann schauten sie nur noch.
Sein ganzes Leben lang war Dämmer von Bäumen und Blättern umgeben gewesen. Der weite Blick vor ihm drückte ihm wie ein Gewicht auf die Brust. Der Wind rauschte in seinem Fell. Sein Atem ging schnell und flach. Er musste sich umdrehen und zurück in den Wald blicken, um sein Herz zu beruhigen. Es war einfach zu viel.
»Geht es dir gut?«, fragte Sylph. Er bemerkte, dass auch sie keuchte.
»Es gibt so viel zu sehen«, sagte Dämmer mit rauer Stimme.
»Ja, sehr viel«, stimmte seine Schwester zu.
Langsam drehte er sich wieder um. Der Boden streckte sich einige Meter leicht schräg dahin, bevor er scharf zum Wasser abfiel. Das meiste Wasser, das Dämmer bisher gesehen hatte, hatte sich in einer großen Furche auf einem Ast des Mammutbaums angesammelt. Aber hier breitete sich das Wasser von der Küste immer weiter und weiter aus, bis es den Himmel erreichte. Er holte tief Luft. Das war der salzige Geruch, den er bereits vorher wahrgenommen hatte, doch hier war er schärfer. Die Wasseroberfläche glitzerte hell und zwang Dämmer, den Blick abzuwenden. Auch den Himmel hatte er noch nie in einer solche Weite und Höhe gesehen. Am liebsten hätte er sich dicht an den Ast gepresst und festgekrallt.
Einen Moment lang blickte er seine Krallen auf der Rinde an, dann spähte er die Küste hinauf und hinunter, doch von dem Suchtrupp war nichts zu sehen.
»Wie gehen die wohl bei ihrer Suche vor?« Dämmer flüsterte das seiner Schwester zu, falls doch andere Chiropter in der Nähe wären.
»Machen die das nicht einfach von den Bäumen aus?«
Dämmer blickte nach unten in das Gewirr von Büschen, Gräsern und Schatten. Man konnte sehr leicht etwas übersehen. »Müssten sie nicht runter auf den Boden gehen?«, sagte er. »Um richtig gucken zu können?«
Bei dem Gedanken schauderte es ihn. Auf den Füßen waren Chiropter ziemlich langsam. Und vom Boden aus konnten sie sich nicht zum Gleiten in die Luft stürzen. Da saß man in der Falle. Es war kaum zu glauben, dass seine Eltern während der Jahre, als sie Saurierjäger waren, ein so entsetzliches Risiko auf sich genommen hatten.
»Lass uns doch von hier oben aus suchen«, schlug Sylph vor.
»Wir müssen auch ein Auge auf die anderen Chiropter haben«, erinnerte er sie.
»Wie sieht wohl so ein Nest aus?«
Dämmer rümpfte über ihr beiderseitiges Unwissen die Nase. Da waren sie den ganzen Weg hergekommen, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wonach sie eigentlich suchen wollten.
»Müsste wohl wie ein Vogelnest aussehen, was meinst du?«, sagte er. »Nur eben auf dem Boden. Rund, aus Blättern, Stöcken und Zweigen gemacht.« Das kam ihm ziemlich logisch vor.
»Da unten ist alles irgendwie so durcheinander«, sagte Sylph.
Dämmer hatte eine Idee. Er schloss die Augen und schickte Klang aus. Seine Echos durchstießen die Schatten und das Gemisch von Farben und brachten ihm ein unglaublich scharfes Bild zurück.
»Benutzt du das Jagdschnalzen?«, fragte Sylph neben ihm.
Er nickte und suchte den Boden weiter mit Schall ab:
Gras.
Ein Lorbeerzweig.
Felsen.
Ein Teebusch.
Etwas Rundes, aus vertrockneten Blättern …
Er ließ seine Echos dort etwas verweilen. Es war ein Kreis aus Blättern – und genau in der Mitte lag etwas Eiförmiges.
Dämmer riss die Augen auf, sein Herz hämmerte.
»Da ist ein Nest!«, keuchte er.
Jetzt, da er eines gefunden hatte, fühlte er sich ganz und gar unvorbereitet. Völlig verängstigt sah er sich um. Wo waren die Sauriereltern? Würden sie vom Himmel kommen wie der Quetzal oder vom Boden oder aus den Bäumen?
»Wo? Wo
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