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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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ihm nicht länger schön. Zwischen den Ästen hindurch konnte er sehen, wie sich ein Schwarm in den Himmel schwang, abdriftete, plötzlich außer Sicht geriet, als die Vögel ihre Flügel verstellten, um sich dann wieder als dichte, dunkle Masse zusammenzufinden. Einige Vögel zogen in Richtung Festland los. Er überlegte, ob sie jetzt einen abscheulichen Angriff auf alle Chiropter vorhatten und mit Schnäbeln und Krallen auf sie niederstoßen wollten.
    Dämmer wagte sich nicht höher in den Baum. Er hatte keinerlei Verlangen danach, sich dem Gebiet der Vögel zu nähern. Ziemlich am Ende des Asts stieß er auf einen Pilzgarten. Die durchsichtigen Stängel wuchsen aus der moosigen Rinde. Es überraschte ihn, wie gerade und groß die Pilze dort standen, wo ihre Stängel doch so dünn waren. Ihre blassen Hüte breiteten sich in Augenhöhe aus, die Ränder waren leicht gezackt und mit einer Art feinem Pulver bedeckt, das schwach leuchtete.
    Den Neugeborenen wurde immer eingetrichtert, sie sollten niemals Pilze essen. Viele seien giftig, hatte seine Mutter gesagt. Aber er hatte auch mitbekommen, wie ein paar ältere Chiropter erzählten, dass die Pilze gar nicht richtig giftig seien, sondern den, der davon aß, Dinge sehen ließen, die sonst niemand sehen konnte. Dämmer schnüffelte daran. Das klang gar nicht so viel anders, als in der Dunkelheit mit seinem Echosehen zu gucken. Den Neugeborenen wurde sowieso alles Mögliche erzählt. Ihm war ja auch gesagt worden, dass er nicht flattern sollte und dass er nicht fliegen könnte. Aber er konnte es. Vielleicht gab es einfach zu viele Regeln. Er fühlte sich verbittert und leichtsinnig.
    Dämmer kroch an einen der Pilze heran und leckte vorsichtig an der Kante, dann saugte er an der Zungenspitze. Es schmeckte ganz anders als alles, was er bisher probiert hatte, dunkel und feucht und irgendwie sonderbar. Er leckte noch einmal und diesmal bröckelte er mit den Zähnen ein winziges Stückchen vom Rand ab. Er mochte zwar den Geschmack, war dann aber doch ein bisschen beunruhigt. Wahrscheinlich sollte er nicht mehr davon essen, um sicherzugehen.
    Er wartete eine Weile, doch nichts schien zu passieren. Durstig ging er zu einem kleinen Tümpel in der Rinde. Er trank und ließ dabei das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche zittern und glitzern.
    Dann setzte er sich neben den Tümpel und wartete weiter darauf, etwas Ungewöhnliches zu sehen. Doch alles, was er sah, waren Mammutbaumäste. Der Wind strich sanft durch den Wald. Dämmer blinzelte. Irgendetwas stimmte nicht.
    Dann merkte er, dass sich im Wind nichts bewegte. Nicht einmal der feinste Zweig schwankte. Die Wolken oben am Himmel trieben nicht weiter und doch wurde das Geräusch des Windes langsam stärker. Er blickte auf das Wasser des Tümpelchens, und seine Oberfläche war glatt und hart wie getrocknetes Harz. Nur wenige Zentimeter vor seiner Nase trieb eine Libelle in der Luft – ohne einen Flügel zu bewegen.
    Alles war wie erstarrt, nur er nicht, und das Erstaunlichste war, dass ihn das überhaupt nicht beunruhigte. Eine schwere Teilnahmslosigkeit durchzog seine Glieder, und er sank mit ausgebreiteten Segeln auf den Ast, die Krallen in die Rinde versenkt, obwohl er das Gefühl hatte, nicht einmal ein schwerer Sturm könnte ihn von der Stelle rühren. Dann hob er die Augen zum Himmel und sah, dass die Nacht anbrach, schneller als bei jedem Sonnenuntergang, den er kannte. Innerhalb weniger Augenblicke war die Helligkeit zwischen den Ästen verlöscht – und noch immer wurde das Geräusch des Windes stärker, obwohl er keinen Hauch über sein Fell wehen spürte.
    Plötzlich war es vollkommen dunkel und die Welt wurde silbrig, dabei war er sich gar nicht bewusst, dass er das Echosehen benutzte. Das konnte auch nicht sein, denn er sah unglaublich weit und tief. Er sah alles auf einmal und nicht nur kurz aufflackern. Die Bäume reckten ihre Zweige in den Himmel, der plötzlich vor Sternen funkelte. Dämmer schrie auf, als einige von ihnen immer größer und heller wurden und sich langsam in eine neue Position begaben. Der gespenstige Wind blies weiter und wuchs an, bis er sich zum Rhythmus schlagender Schwingen auflöste. Dämmer dachte zuerst, das wäre der Quetzal, doch nicht einmal dessen riesige Flügel konnten ein solches Geräusch hervorbringen.
    Das Pulsieren der Sterne ließ Dämmer zusammenzucken. Der Sturm der Flügelschläge schwoll an. Von einem starken Windstoß wurden alle Äste über ihm vom Baum gerissen.

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