Nachtflügel
Dämmer fühlte sich entsetzlich nackt und schutzlos, als ihn die funkelnde Kuppel der Nacht umschloss. Er wollte nur noch, dass alles aufhörte.
Die Sterne flammten mit erneuter Kraft auf, als sie wieder anfingen, sich zu bewegen. Die hellsten von ihnen bildeten die Umrisse riesiger, flatternder Flügel und das Geräusch des Windes kam von ihnen her.
»DU BIST NEU.«
Die gewaltige Stimme erscholl nicht nur von den Sternenflügeln am Himmel, sondern wallte auch von der Erde auf. Dämmer spürte die Vibrationen durch den Baum und seinen eigenen Körper laufen.
»DU BIST NEU.«
Entsetzt starrte Dämmer um sich. Die Flügel waren so groß wie die Nacht. Bei jedem Schlag, meinte er, davongeweht zu werden, zusammen mit der ganzen Erde, doch kein Wind rüttelte an ihm.
»ABER ES GIBT AUCH ANDERE«, sagte die Stimme.
Wer bist du? , wollte Dämmer fragen, doch Kehle und Mund gehorchten ihm nicht.
Dann gingen die Flügel in Schräglage und wischten alle Sterne zu neuen Konstellationen zusammen, die bewegliche Bilder ergaben.
Ein geschmeidiges, vierfüßiges Wesen rannte durch einen Wald. Sein Maul öffnete sich und wurde so riesig, dass Dämmer seine seltsamen, scharf gezackten Zähne sehen konnte, die zum Reißen gemacht waren.
Er schloss die Augen. Er hatte genug. Er wollte nichts mehr sehen. Doch auch mit zusammengepressten Augen hatte er genau dieselbe Sicht auf den gewaltigen Nachthimmel. Es war, als wären seine Augenlider abgerissen worden.
Die Sterne wirbelten, und das vierfüßige Wesen wurde zu einem, das groß und aufrecht auf den Hinterbacken saß und auf den beiden Hinterbeinen zu rennen schien.
Wieder ordneten sich die Sterne neu an und es entstand ein schreckliches Mosaik aus riesigen Schnäbeln und gefletschten Zähnen.
Dinge wuchsen, Pflanzen und Bäume aus Sternen schossen in die Höhe.
Dann schlug wieder das gigantische Paar Flügel am Himmel. Bei ihrem letzten Schlag zersplitterten sie und wurden zu unzähligen kleinen Wesen mit flatternden Flügeln, die von den Sternen auf Dämmer zuströmten, der auf dem Ast kauerte. Während sie auf ihn zurasten, drang aus den offenen Mündern dieser geflügelten Kreaturen helles Schnalzen. Dämmer stellte fest, dass sie alle aussahen wie er.
»DA SIND ANDERE«, vernahm er die gigantische Stimme noch einmal.
Als Dämmer schließlich die Augen aufmachte, war der Tag wieder da. In den Zweigen raschelte der Wind. Der kleine Wassertümpel schimmerte. Die Libelle setzte ihren Weg fort. Dämmer hakte seine Krallen aus der Rinde. Er war schweißgebadet und sein Herz raste. Im Mund hatte er einen furchtbaren Geschmack.
Er musste einige Male würgen, bis die Verkrampfung in seinem Magen sich löste.
»Das war das letzte Mal«, keuchte er, »dass ich an einem Pilz geleckt habe.«
Er musste eingeschlafen sein, denn als Nächstes hörte er seine Schwester in einiger Entfernung. Verwirrt blickte er sich um, und es dauerte einige Augenblicke, bis ihm wieder einfiel, wo er war. Nun hörte er genauer hin – es war eindeutig seine Schwester, man konnte sie nur schwer verwechseln. Selbst beim Flüstern war sie lauter als alle anderen.
Dämmer glaubte, jetzt auch andere Stimmen zu vernehmen. Sie befanden sich ein ganzes Stück über ihm am Stamm. Was machten sie dort, so weit vom Mammutbaum entfernt? Er kletterte los, ihnen hinterher, spähte durch die Äste und hoffte, von dort einen Blick auf sie werfen zu können.
Da war Sylph, und bei ihr befanden sich – natürlich – Jib und ein anderer Neugeborener, der Terra hieß und den Dämmer nicht besonders gut kannte, einer von Sols Söhnen.
Er rief ihnen keinen Gruß zu, denn es hatte etwas Verstohlenes an sich, wie sie schnell und nervös kletterten, als ob sie etwas Verbotenes vorhätten. Aber was konnte das sein? Weiter oben gab es nur eines: Vögel. Sylph sollte es eigentlich besser wissen, als in ihr Gebiet einzudringen, nach dem, was mit Aeolus passiert war.
Selbst in seinen besten Zeiten war Dämmer auf der Rinde nie schnell gewesen und jetzt war er immer noch von seinem Pilzexperiment geschwächt. Doch kurz bevor er sie ganz aus den Augen verlor, hielten sie schweigend an der Unterseite eines dicken Asts an. Dämmer kletterte weiter und hoffte, den Abstand zu ihnen zu verringern. Was hatten sie bloß vor?
Dann sah er das Nest. Seine geflochtene Unterseite ruhte auf dem Ast, an den sie sich klammerten. Erwachsene Vögel waren in der Nähe nicht zu sehen. Vielleicht waren sie losgeflogen, um sich etwas zu
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