Nachtflügel
Kreatur mit riesigen Flügeln hoch am Himmel. Er sehnte sich danach, jemandem von seiner Vision zu erzählen, doch er traute sich nicht, sie seinen Eltern gegenüber zu erwähnen. Wenn sie hörten, dass er an einem Pilz geknabbert hatte, würden sie ihm wahrscheinlich niemals wieder erlauben, das Nest zu verlassen.
Wenn er schlau wäre, würde er den ganzen Vorgang einfach vergessen. Ein giftiger Pilz hatte ihm einen Albtraum beschert – das war alles. Doch dessen Eindringlichkeit machte es Dämmer unmöglich, ihn zu vergessen. In seiner Erinnerung sah er immer noch, wie der heiße Sternenwirbel Millionen geflügelter Geschöpfe hervorbrachte. Sie hatten den Körper von Chiroptern, doch haarlose Segel, genau wie er. Du bist neu , hatte die Stimme gesagt.
Allein der Gedanke daran ließ sein Herz schneller schlagen. Er wusste nicht genau, ob er neu sein wollte, wenn das bedeutete, dass er kein Chiropter mehr wäre. Es war ihm egal, ob es tatsächlich andere wie ihn gab. Er wollte nur, dass seine Eltern sagten, dass er ihr Sohn war und dass er dazugehörte. Er musste noch stärker versuchen, sich anzupassen.
Aber sein Aussehen konnte er nicht ändern. Und würde er jemals sein Verlangen zu fliegen ersticken können? Vielleicht sollte er sich davonstehlen und es da tun, wo niemand es sehen würde. Er würde dann so weit unten bleiben, dass ihn nicht einmal die Vögel entdecken könnten.
Entgegen den Wünschen seiner Mutter verließ er den Mammutbaum und wechselte von einem Ast auf den anderen, bis er völlig außer Sicht war. Dann suchte er sich eine gute Stelle und kauerte sich hin, zum Absprung bereit. Plötzlich gingen ihm Aeolus’ abgetrennte Segel und das ernste Gesicht seines Vaters durch den Kopf, als er ihn fragte, ob er das Versprechen halten werde. Mit einem tiefen Seufzer sackte er niedergeschlagen auf die Rinde zurück.
Da nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und schaute sich überrascht um. Auf dem Ast über sich erblickte er eine gelb gefiederte Brust, die Unterseite einer weißen Kehle und einen Schnabel.
»Teryx?«, fragte Dämmer unsicher.
»Gut – du bist es tatsächlich!«, trillerte Teryx offensichtlich erleichtert. Er hüpfte näher. »Es war schwer, dich zu finden, vor allem, weil du nicht mehr fliegst.«
Dämmer schnaubte. »Natürlich fliege ich nicht mehr, nach dem, was ihr unserem Neugeborenen angetan habt!«
»Ich hab das nicht getan«, zwitscherte Teryx entrüstet.
»Dann halt deine Mitvögel«, sagte Dämmer. Er musste ständig Teryx’ Schnabel ansehen und überlegte sich, wie sehr man jemanden damit verletzen konnte. Doch er könnte es sich niemals vorstellen, dass Teryx etwas so Brutales machen würde. Aber vielleicht schätzte er das ja falsch ein.
»In unserem Schwarm gibt es viele Vögel, die die Chiropter hassen«, sagte Teryx.
»Aber warum?«, wollte Dämmer wissen.
»Sie denken, alle Tiere wären Mörder, weil sie Sauriereier jagen. Überleg doch mal, wir sind ja auch Eierleger. Und als sie dich fliegen gesehen haben, sind sie böse geworden. Sie wollen euch nicht in unserem Himmel haben. Wer weiß denn, ob ihr nicht plötzlich beschließt, dass unsere Eier eine Beute für euch sind?«
Dämmer wollte schon dagegen protestieren, als ihm einfiel, wie Sylph und ihre Freunde mit mörderischen Absichten in das Nest geklettert waren. Auch wenn es dabei um Vergeltung und nicht ums Jagen gegangen war.
»Sollte eigentlich ich umgebracht werden?«
»Ja. Und sie denken immer noch, sie wären damit erfolgreich gewesen. Aber als ich den Toten gesehen habe, ist mir die unterschiedliche Markierung aufgefallen, und ich wusste, dass das nicht du warst. Aber ich hab nichts gesagt, vielleicht hätten sie dann weitermachen wollen.«
»Er war ein Freund meiner Schwester.«
»Ich hab damit nichts zu tun, glaub mir«, sagte Teryx. »Wir sind nicht alle so blutrünstig.«
Dämmer musste an den schrecklichen Morgengesang denken, den die Vögel nach dem Mord an Aeolus angestimmt hatten.
»Deine Mutter hat aber ganz schön blutrünstig ausgesehen, als sie mich davongejagt hat.«
»Sie ist eben fürsorglich«, meinte Teryx. »Jede Mutter hätte das so gemacht. Immerhin warst du ja in unserem Bereich.«
»Und du bist jetzt in meinem.«
»Ich weiß. Aber ich bin gekommen, um dir etwas zu erzählen.« Teryx ruckte mit dem Kopf von einer Seite zur anderen, als wollte er sich vergewissern, dass sie niemand beobachtete. »Da ist etwas ganz Gefährliches im Anmarsch.«
Dämmers
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