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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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schnappte nach dem Vogel, der mit den Flügeln auf ihn einschlug.
    »Bleib weg! Bleib weg!«, kreischte sie.
    Die Mutter war in heller Wut, kratzte ihn mit ihren Klauen, pickte ihn auf den Kopf, doch er war größer. Er sprang in das Nest.
    »Eierfresser!«, kreischte die Mutter. »Eierfresser!«
    Und da lagen drei Eier. Die Schalen waren viel dünner als die der Sauriereier und brachen ganz leicht unter dem Gewicht seiner Pfoten. Doch ihm blieb nur die Zeit, eines der ungeschlüpften Vogelküken zu fressen, bevor noch mehr Vögel sich dem geflügelten Wirbel über seinem Kopf anschlossen. Sogar er konnte sie sich nicht alle vom Leib halten.
    Er sprang aus dem Nest und auf den nächsten Ast nach unten. Seine Wunden brannten wie Feuer.
    »Es dauert nicht mehr lang, dann kommen ganz viele, die eure Eier fressen wollen«, schrie Reißzahn hinauf zu den Vögeln. »Die Welt verändert sich!«
    »Hüte dich!«, kreischte der Muttervogel in hellster Wut. »Hüte dich, du Untier! Auch die Jäger können gejagt werden!«
    Reißzahn schnaubte spöttisch und setzte seinen Weg den Baum hinab fort. Jetzt, da die Saurier fort waren, war er der einzige Jäger von Bedeutung. Und er würde seine Fähigkeiten noch weiter verfeinern und Fleisch fressen – und herrschen, wozu er ja auch bestimmt war.
     

Kapitel 10
Ein Wechsel der Gezeiten
    S ylph wich ihm aus. Sie fragte nicht einmal mehr, ob er mit zum Jagen gehen wollte. Seit er sie im Nest des Vogels erwischt hatte, hatte sie kaum noch mit ihm gesprochen. Seinen Eltern hatte er nichts erzählt und ihr Geheimnis bewahrt. Doch sie war weit davon entfernt, ihm dankbar zu sein. Er wartete darauf, dass sie käme und ihm sagte, dass er recht gehabt habe, und ihm dafür dankte, dass er sie aufgehalten hatte. Er hatte sie vor dem größten Fehler ihres Lebens bewahrt, doch irgendwie schaffte sie es immer noch, sich über ihn zu ärgern, und glitt mit ihren räudigen kleinen Freunden fort.
    Dämmer vermisste sie schrecklich. Ihr ganzes Leben lang waren sie nie weit voneinander entfernt gewesen, sie waren zusammen geglitten, hatten sich im Nest aneinandergekuschelt und sich morgens und abends gegenseitig geputzt. Ohne ihre Nähe fühlte er sich, als würde er nur halb leben. Und er war wütend auf sie, weil sie ihn verachtete, weil er nicht mehr flog. Was erwartete sie denn eigentlich von ihm?
    Auch seine Eltern schienen von ihm die Nase voll zu haben. In den ersten paar Tagen, als er sich weigerte zu gleiten, war seine Mutter freundlich und voller Mitgefühl gewesen, aber nun schüttelte sie nur noch traurig den Kopf, als wüsste sie nicht, was aus ihrem armen, verrückten Sohn werden sollte. An diesem Morgen hatte ihn sein Vater angeschnauzt, er solle endlich erwachsen werden und aufhören zu schmollen, und dann hatte er ihn vom Ast gestoßen. Dämmer war geglitten, aber nur ein paar Augenblicke lang und in heller Wut. Sein Vater konnte einfach nicht wissen, was es hieß, fliegen zu können und es dann nicht zu tun.
    Er wollte den Mammutbaum möglichst meiden, aber auch das war etwas, das ihm nicht erlaubt wurde. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er sollte damit aufhören, sich in den Wald zu wagen. Alle waren jetzt wegen der Vögel nervös, und Dämmer sah viele Eltern, die ihre Kinder nun strenger im Auge behielten. Ikaron hatte sogar den Oberen Holm vorerst für verboten erklärt.
    So wanderte Dämmer über den Mammutbaum und fraß Blattläuse und Larven. Wenn er sich bei der Kolonie aufhielt und weiterhin absichtlich übersehen wurde, fühlte er sich einsamer, als wenn er wirklich alleine war. Doch es war erstaunlich, was er alles mitbekam, wenn er an der Unterseite eines Asts entlangkroch oder sich versteckt in einer Rindenfurche ausruhte. Der Baum schwirrte von Gerüchten, meist über seinen Vater oder die Vögel.
    »… im Herzen sind sie Saurier, genau …«
    »… haben seit Jahrhunderten auf eine Chance wie die hier gewartet …«
    »… vor zehn Jahren wäre das nicht durchgegangen …«
    »… wird alt, deshalb …«
    »… er lädt ja die Vögel geradezu ein, es wieder zu tun …«
    Obwohl er sauer auf seinen Vater war, empfand er jedes Mal, wenn er hörte, wie etwas gegen ihn gesagt wurde, sowohl Zorn als auch Trauer. Es war jetzt nicht mehr nur Nova, die sich über ihren Anführer beschwerte.
    Sein Kopf kam ihm wie eine kleine Höhle vor, in der zu viele Echos widerhallten. Die getöteten kleinen Saurierschlüpflinge tief im Wald; Sylph, die in ein Vogelnest kletterte; eine

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