Nachtflug Zur Hölle
unseren Informationen zum GUS-Ministerrat gegangen und haben Ihre Freilassung gefordert.«
Ministerrat und Sicherheitsausschuß hatten sofort ihre Beauftragten nach Wilna entsandt, um den Vorfall untersuchen zu lassen. Die litauische Regierung und die Bürgerbewegung unter Führung von Anna Kulikauskas hatten Palcikas’ Freilassung gefordert; unterstützt worden waren sie von der Bevölkerung und dem litauischen Militär.
Er war am nächsten Tag kurz nach Mitternacht freigelassen worden.
»Sind Sie mißhandelt worden?«
»Hätten Sie noch länger gezögert – oder darauf bestanden, mir die Schuld an dem Überfall zu geben –, wäre ich schon tot«, antwortete der General. Anna verstand, daß die Weißrussen oder die OMON-
Truppen im Fisikus ihn ermordet hätten, um die Litauer zu »besänftigen«, falls sie bei ihrer Behauptung geblieben wäre, Palcikas habe diesen Überfall befohlen. Sie hätte ihn beinahe ermordet, ohne eine Waffe anzufassen, »Ich bin von Weißrussen und MSB-Soldaten ins Fisikus verschleppt worden. Dort hat es kein Verhör, sondern nur strenge Einzelhaft gegeben. Die Kerle haben auf eine günstige Gelegenheit gewartet, mich zu beseitigen. Hätten Sie nicht die Öffentlichkeit alarmiert, wäre ich wohl nicht lebend rausgekommen.«
»Diese Schweine! Es tut mir leid, was ich gedacht und gesagt habe, ich habe solche Angst vor dem, was ein starkes Militär einem Land antun kann, daß ich vergesse, daß es auch Gutes bewirken kann, Aber ich kenne Sie jetzt als vertrauenswürdig. Das mit Major Kolginow tut mir sehr leid… großer Gott, ich werde das nie vergessen!« Sie machte eine Pause, als sähe sie nochmals Kolginows Tod vor ihren Augen.
»Danke«, sagte Palcikas ruhig. »Alexei war ein guter Soldat und ein guter Kamerad – wir werden ihn nicht vergessen.« Er berührte ihre Hand, und die schlichte Geste ließ Anna lächeln. »Wir brauchen Ihr Vertrauen – und das von Regierung und Bevölkerung –, um die kommenden Tage überstehen zu können. Sollten die Weißrussen darauf beharren, die Demonstration als Auftakt zu systematischem Terror gegen GUS-Einrichtungen zu betrachten, müssen wir uns darauf vorbereiten, unser Land zu verteidigen. Was haben Sie in letzter Zeit gehört, Anna?«
»Weißrussische Truppen durchsuchen die Stadt«, berichtete Anna. »Angeblich im Auftrag der GUS.«
»Eine gute Gelegenheit, Waffen aufzuspüren, die wir gegen sie einsetzen könnten«, sagte Palcikas. »Leider können meine Männer die Waffen oder Granaten niemandem nachweisbar zuordnen. Der MSB behauptet, er habe in Wilna in mehreren Wohnungen ganze Lager solcher Granaten entdeckt.«
»Die offensichtlich von den Weißrussen oder dem MSB angelegt worden sind!«
»Es sind zwar nur Indizienbeweise, die jedoch darauf hinzudeuten scheinen, daß Ihre Bewegung an den Unruhen schuld ist«, sagte Palcikas. »Am Ende sind alle verwirrt, die Ermittlungen verlaufen im Sand, und unsere Toten werden nie gerächt. Inzwischen besetzen die Weißrussen große Teile unseres Landes und bereiten sich auf einen Krieg vor. Jetzt muß gehandelt werden!«
Anna starrte Palcikas überrascht und mit angstvoll geweiteten Augen an. »Wie meinen Sie das?«
Die ersten Angehörigen der Gefallenen kamen bereits in die Kapelle, daher bekreuzigte sich Palcikas, stand auf und griff nach Helm, Gewehr und Funkgerät. »Kommen Sie, Anna«, forderte er sie auf. Nachdem er einigen Trauernden halblaut sein Beileid ausgesprochen hatte, verließen sie die Kapelle und gingen in seine Diensträume.
Seit Annas erstem Besuch hatten sich Palcikas’ Diensträume erheblich verändert. Im Vorzimmer waren jetzt mehrere Reihen Telefone, Funkgeräte und Computer aufgebaut. Draußen vor dem Fenster stand ein Notstromaggregat, und überall waren kleine Sprengladungen gestapelt, damit alle Geräte und Geheimunterlagen zerstört werden konnten, falls eine Eroberung der Burg drohte. An den Wänden hingen Generalstabskarten von Litauen, Lettland, Ostpolen, dem Kaliningrader Gebiet, der Ostseeküste und dem Norden Weißrußlands.
Auch Palcikas’ Dienstzimmer war mit Karten tapeziert. An einigen neu aufgestellten Schreibtischen saßen Soldaten im Kampfanzug und mit Hör-Sprech-Garnituren, die Meldungen entgegennahmen und in Computer eingaben. Ein Offizier nahm rasch eine Wandkarte ab, als sie hereinkamen. »Anna Kulikauskas, Oberst Vitalis Zukauskas, mein neuer Stellvertreter. Oberst, Miss Kulikauskas,« Zukauskas begrüßte Anna mit einem wortlosen Nicken.
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