Nachtflug Zur Hölle
worden sein – angeblich haben sogar ukrainische Bomber die Grenze überflogen und unsere Truppen angegriffen. Sollte das stimmen, sind wir vielleicht die letzten Verteidiger der Hauptstadt.«
»Aber wir würden die Hauptstadt mit Raketen beschießen!«
»Schluß jetzt, Sergeant«, sagte Kramko energisch. »Obwohl der Funkverkehr schon die ganze Nacht gestört ist, lasse ich mir den Befehl möglichst bestätigen. Sie stellen inzwischen die neuen Koordinaten ein und alarmieren die Startmannschaften, damit die Raketen einsatzbereit sind.«
Der Sergeant grüßte knapp und eilte zu dem Sattelschlepper hinüber, in dessen Auflieger das Kontrollzentrum untergebracht war.
Kramkos Kompanie verfügte über insgesamt zwölf Raketen SS-21 SCARAB, davon drei mit Atomsprengköpfen. Um höchste Zuverlässigkeit zu garantieren, waren die Raketen untereinander und mit dem Kontrollzentrum nicht nur über Funk, sondern auch durch ein armiertes Fernsprechkabel verbunden. Über eine Richtfunkverbindung mit dem Hauptquartier – und die wollte Kramko erst prüfen, bevor er seinen Funkspruch mit der Bitte um Bestätigung ihrer Ziele riskierte.
»Qualität der Richtfunkverbindung?«
»Verbindung steht und ist störungsfrei, Hauptmann«, meldete der Unteroffizier, Kramko forderte die Zielkoordinaten erneut an. Da sie bestätigt wurden und mit den im Fernschreiben genannten Koordinaten übereinstimmten, war jeder Zweifel ausgeschlossen. »Die Startmannschaften haben den Alarmbefehl bestätigt, Hauptmann.«
»Danke. Rufen Sie mich über Funk, wenn der Hochfahrbefehl kommt. Ich bin unterwegs, um die Raketen zu inspizieren.«
Dieser Hochfahrbefehl war in Wirklichkeit der Startbefehl, aber das Raketensystem SS-21 brauchte vor dem Start gewisse Zeit, um seine Kurskreisel auf Touren zu bringen – mindestens drei Minuten, aber je nach den äußeren Bedingungen sowie Alter und Wartungszustand der Rakete auch bis zu fünf Minuten. Die SS-21 mit Atomsprengköpfen hatten die zuverlässigsten Kurskreisel. Kramko hatte diese drei Raketen aus Sicherheitsgründen nur wenige hundert Meter vom Kontrollzentrum aufstellen lassen und wollte sie jetzt ein letztes Mal inspizieren.
Ansonsten konnte er nur noch warten … und sich fragen, welcher Teufel in General Woschtschanka gefahren sein mußte, wenn er Minsk – seine eigene Hauptstadt! – mit einer Atomrakete beschießen wollte.
Heeresflieger-Stützpunkt Smorgon, Weißrußland
14. April, 03.05 Uhr
In einer Inszenierung, die an Schwarzweißfilme aus dem Zweiten Weltkrieg erinnerte, hatte Woschtschanka im Lageraum seines Hauptquartiers eine riesige Tischkarte Weißrußlands und der baltischen Staaten aufbauen lassen. Soldaten mit aufgesetzten Kopfhörern schoben mit Croupiersrechen kleine Quadrate mit Nationalflaggen und den taktischen Zeichen von Einheiten hin und her. Von einem verglasten Balkon aus konnten der General und sein Stab die Entwicklung der Schlacht verfolgen – Göttern ähnlich, die vom Olymp herab die menschliche Tragödie beobachten.
Im Augenblick war die Stimmung im Lageraum von ungläubigem Schock und Entsetzen geprägt. Mit der Meldung von einem Überfall durch litauische Truppen war das geschlossene karmesinrote Quadrat, das die aus Smorgon in Marsch gesetzte 40000 Mann starke Heimatbrigade symbolisierte, in sechs Bataillonsblöcke aufgeteilt worden. Danach wurde einer der Blöcke ganz weggenommen, während zwei weitere mit dem Fähnchen KV (Kampfkraft vermindert) gekennzeichnet wurden.
Kurze Zeit später erschienen weitere KV-Fähnchen.
Plötzlich wurden ohne nähere Begründung alle Bataillonsblöcke weggenommen und durch zwei Kompanieblöcke mit KV-Fähnchen ersetzt. Dieses Fähnchen trug auch Smorgons Geschwaderblock, nachdem er Opfer eines Kommandounternehmens gegen den Stützpunkt geworden war. Ähnliches war südlich von Wilna passiert: Drei Bataillone mit dem Auftrag, die litauische Hauptstadt anzugreifen, waren von nicht identifizierten Flugzeugen angegriffen worden.
»Eine der Maschinen ist von unseren Jägern als ein russisches Versuchsflugzeug erkannt worden«, hatte der Fliegerführer gemeldet. »Sie hat das dreiundzwanzigste Bataillon mit Minenbomben angegriffen. Die Piloten haben Englisch gesprochen, sich aber als Russen bezeichnet.«
Bombenangriffe russischer Flugzeuge kamen in diesem Frühstadium völlig unerwartet, waren geradezu undenkbar. Obwohl Woschtschanka und seinem Stab keine eindeutige Identifizierung der Maschinen vorlag, deren Opfer die
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