Nachtflug Zur Hölle
Großen Vaterländischen Krieg hab’ ich vom Motorrad mit Beiwagen bis zum Panzer alle möglichen Fahrzeuge gehabt. Ich war damals viel jünger als diese Dummköpfe, aber ich hab’ meinen Panzer millimetergenau gefahren! Außerdem…«
»Der General wüßte gern Ihren Namen«, unterbrach ihn Kolginow, aber der Alte polterte noch einige Minuten lang weiter, bis eine jüngere Frau die Stube betrat.
»Er heißt Michaus Egoro Kulikauskas«, sagte sie, als Kolginow die Frage nach seinem Namen wiederholte. Sie berührte seine Schulter, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Er ist mein Vater. Er hört nicht sehr gut und hat heute morgen mehr Fremde gesehen als sonst im ganzen Monat.«
»Und Sie sind Anna Kulikauskas, unsere berühmte Revolutionärin«, sagte General Palcikas. »Ich kenne Sie von Sajudis-Plakaten und Zeitungsfotos. Jetzt weiß ich auch, von wem Sie Ihr Temperament geerbt haben.«
Die Frau, die Kolginow auf Ende Dreißig schätzte, nickte lächelnd, während sie gelassen Palcikas’ Blick erwiderte. Anna Kulikauskas, die zur jungen Politikergarde des »neuen« Litauens gehörte, war eine linksstehende – viele, darunter auch Palcikas, hätten sie als »radikal«
bezeichnet – Verfechterin einer Politik, durch die Litauen Bestandteil einer »Neuen europäischen Ordnung« werden sollte. Soviel Palcikas sich erinnerte, sollte ihre neue europäische Ordnung ohne Streitkräfte, Atomkraftwerke, Steuern, umweltbelastende Schwerindustrie und ausländische Investoren auskommen.
Anna Kulikauskas hatte die unabhängige Partei Sajudis mitgegründet und war international als Sprecherin der Protestbewegung berühmt geworden, die letztlich die Schließung des Atomkraftwerks Ignalina im Nordwesten Litauens erzwungen hatte. Pressefotos von ihr, wie sie Hunderten von Rotarmisten und Schwarzen Baretten gegenüberstand, waren weltweit veröffentlicht worden. Sie war willensstark, intelligent, temperamentvoll, mutig und aggressiv.
Sie trug einen handgewebten »bäuerlichen« Rock, wie er gerade in ganz Europa – vor allem jedoch im Baltikum – große Mode war und von berühmten Modeschöpfern und Konfektionären in aller Welt kopiert wurde. Wie viele Slawinnen hatte sie hellbraune Locken, die sie schulterlang trug, große blaue Augen, volle Lippen und eine Nase, die nicht ganz zu ihrem sonstigen Gesichtsschnitt paßte. Aber zu ihren Vorfahren mußte auch ein Wikinger gehört haben, denn Anna war kurvenreich und füllig – mit üppigen Hüften, schmaler Taille und vollem Busen, den Palcikas bewundernd anstarrte.
Kolginow räusperte sich höflich und hatte Mühe, ein belustigtes Lächeln zu unterdrücken.
»Hat’s hier Verletzte gegeben?« fragte Palcikas rasch.
»Nicht unter den Menschen«, sagte Anna, »aber bei den Tieren.
Zwei unserer Kühe sollen von der Weide weggelaufen sein, aber ich vermute, daß die Soldaten sie geschlachtet und mitgenommen haben.
Auch ein paar Gänse und Hühner sind überfahren oder von Soldaten gestohlen worden. Aber das ist alles weniger schlimm als der hohe Sachschaden …«
»Schicken Sie mir eine unterschriebene Aufstellung aller Schäden nach Trakai ins Oberkommando«, forderte Palcikas ihren Vater auf.
»Der Staat ersetzt Ihnen sofort alle Schäden. Und meine Soldaten helfen Ihnen, Gebäude instand zu setzen und Zäune zu reparieren.«
«Ich brauche keine Hilfe beim Wiederaufbau meines Hofs!«
wehrte der Alte ab. »Ich will nur meine Ruhe haben! Ich hab’ jeden Rubel meiner Ersparnisse für diesen Hof hingelegt und lasse nicht zu, daß ihr Soldaten ihn verwüstet!«
»Das sind GUS-Soldaten gewesen, Kulikauskas«, erklärte Major Kolginow ihm, «keine Litauer.«
»Und was sind Sie?« fragte der Alte, dem Kolginows leichter russischer Akzent nicht entgangen war. »Ein Russe? Zuerst GUS-Soldaten, dann Weißrussen und jetzt Russen …?«
Der Offizier lächelte verlegen, aber Palcikas intervenierte zu seinen Gunsten. »Major Kolginow ist eingebürgerter Litauer und Angehöriger der Brigade Eiserner Wolf, Kulikauskas«, sagte er rasch.
»Brigade Eiserner Wolf!« rief der Alte aus. »Eine Frechheit! Wie können Sie’s wagen, den Namen der Armee des Großfürsten zu entweihen?« Er betrachtete Palcikas’ Uniform genauer und deutete empört auf einen roten Aufnäher mit einem weißen Ritter auf einem sich aufbäumenden Rappen. »Sie tragen das Bild des Großfürsten wie einen aufgesetzten Flicken, der einen Riß im Stoff verdecken soll?
Pfui, das… das ist eine Schande, das
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