Nachtflug Zur Hölle
ausländischen Geschäfte zumachten, waren die Menschen deprimiert gewesen. Als Lebensmittel knapp wurden, kam es zu Unruhen. Als die neue Republik Litauen ihren ehemaligen russischen Herren die ersten tausend Tonnen Weizen verkaufte, löste das allgemeine Ressentiments und Verärgerung aus.
Jetzt sah sie schlicht und ergreifend tiefste Armut: Menschen, die auf der Straße starben, Plünderungen und Verbrechen trotz verschärften Kriegsrechts. Auch von der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten war keine Hilfe zu erwarten. Die wahren Machthaber in Moskau waren die Armee und die »russische Mafia«, die sich den Schutz der bewaffneten Macht erkauften.
Die meisten Fahrkartenschalter des großen Bahnhofs waren mit Brettern vernagelt, die dazugehörigen Türen verschlossen. Aber Greenfield marschierte geradewegs auf eine zu und öffnete sie. Sofort baute sich ein Beamter der Moskauer Stadtpolizei vor ihr auf, breitete abwehrend die Arme aus und griff ihr dabei wie unabsichtlich an die Brust. Sharon schlug seine Hand weg. Der Uniformierte wurde zornrot und trat drohend einen Schritt auf sie zu, bis eine energische Stimme hinter ihm sagte: »Weggetreten, Korporal!« Der Polizeibeamte trat beiseite, nicht ohne Greenfield nochmals zufrieden grinsend zu mustern.
Heute vormittag begrapscht er mich, dachte Sharon. Heute abend fliegt er wegen Ungehorsams aus dem Polizeidienst. Morgen gehört er zu einer der Banden; er ist tot, weil er sich bis zur Bewußtlosigkeit betrunken hat und nachts auf offener Straße erfroren ist; oder steht am Gittertor der amerikanischen Botschaft an und will Asyl beantragen; er sucht Arbeit oder versucht, wertlose Informationen zu verkaufen. Das alles hatte sie schon hundertmal erlebt.
Ihr Verteidiger – falls er diese Bezeichnung verdiente – war Boris Grigorjewitsch Dwornikow, der ehemalige Moskauer KGB-Chef, jetzt ein hoher Beamter der Stadtpolizei. Dwornikow war groß und hatte lockiges graues Haar, ein ansteckendes Lächeln und bärenstarke Pranken. Er war manchmal ein Mitglied der kommunistischen Partei, meistens jedoch nicht; meistens heterosexuell, manchmal jedoch nicht; manchmal zuverlässig, meistens jedoch nicht. Greenfield und er trafen sich in unregelmäßigen Abständen, immer wenn einer etwas vom anderen brauchte. Diesmal hatte er sie angerufen.
»Sharon Greenfield, ich entschuldige mich für die grobe, unelegante Art des Korporals. Gute Leute sind schwer zu bekommen, aber diese Frechheit wird er mir noch büßen.«
Das bezweifelte Greenfield keine Sekunde lang. Dwornikow war als brutal und sogar sadistisch bekannt – Eigenschaften, die beim KGB von Vorteil gewesen waren und ihm bestimmt auch in der neuen Gemeinschaft nutzen würden. »Danke, Boris Grigorjewitsch«, antwortete Greenfield und gebrauchte dabei als vertrauliche russische Anrede ebenfalls seinen Vatersnamen.
»Nichts zu danken«, wehrte Dwornikow ab. Dann zeigte er auf die Tür hinter ihr. »Schreckliche Bilder, nicht wahr, Miss Greenfield?
Allein heute abend sind dreihundertsiebenundachtzig neue Seelen dazugekommen. Insgesamt bevölkern damit über dreitausend Obdachlose den Leningrader Bahnhof.«
»Und wie viele werden jede Nacht abtransportiert?« fragte Green-
field. Sie wußte, daß die russische Regierung, der die Zustände auf dem Leningrader Bahnhof wegen der Berichterstattung in der jetzt freien Presse ein Dorn im Auge waren, die Polizei beauftragt hatte, bei seiner »Säuberung« mitzuhelfen. Praktisch bedeutete das, daß Dwornikow Hunderte von verlorenen Seelen abtransportieren ließ, die vermutlich eine lange Zugfahrt in den abgelegensten Winkel der russischen Föderation und der sichere Tod erwartete.
»Wir müssen mit dieser Situation fertig werden, so gut es eben geht.«
»Das Schlimme ist nur, daß sich das Leid größtenteils vermeiden ließe.«
»Ah, das edle Angebot der Vereinigten Staaten und der sogenannten Industrieländer!« höhnte Dwornikow. »Und wir Russen brauchen dafür lediglich auf unser Selbstbestimmungsrecht zu verzichten, unsere nationale Identität aufzugeben, unser bisheriges Wirtschaftssystem zu verdammen und uns freiwillig wehrlos zu machen.«
»Freie Wahlen, freie Auswanderung, Einführung der Marktwirtschaft und Verzicht auf nukleare Angriffswaffen – darum geht’s«, stellte Greenfield richtig. »Rußland gibt jedes Jahr viele Milliarden Dollar – Dollar, Boris Grigorjewitsch, nicht Rubel – für seine drei Millionen Soldaten, einen Lagerbestand von zehntausend
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