Nachtflug Zur Hölle
den kalten Krieg Wiederaufleben lassen und würde alle in den letzten Jahren erzielten Fortschritte zunichte machen.«
»Sharon…«, seufzte Dwornikow gedankenverloren. »Was der Westen als Fortschritt sieht, betrachten viele in der ehemaligen Sowjetunion als Rückschritt. Manche behaupten, die Perestroika habe uns nichts als Unsicherheit und Verwirrung gebracht.«
»Ihre gegenwärtige politische und wirtschaftliche Misere ist eine Folge der jahrzehntelangen Mißwirtschaft des kommunistischen Regimes, nicht von Demokratie und Frieden«, sagte die Amerikanerin nachdrücklich. »Ein Einmarsch in die baltischen Staaten – die jetzt trotz Ihrer historischen Reminiszenzen so frei und unabhängig wie jedes andere Land der Welt sind – wäre ein schlimmer Akt der Aggression. Und die Vereinigten Staaten würden entsprechend darauf reagieren.«
»Sharon, die Gemeinschaft und vor allem die russische Regierung stehen unter gewaltigem Druck, etwas gegen die jetzigen Zustände zu unternehmen. Überall herrschen Hunger und Unruhe. In der Regierung bilden sich miteinander verfeindete Fraktionen. Der Weltfrieden wäre in Gefahr, wenn in Rußland eine Militärjunta an die Macht käme oder auch nur einen Putsch versuchte. Zerbräche die Gemeinschaft an einer Militärdiktatur in Rußland, wäre die ganze Welt davon betroffen.«
»Und was sollen die Vereinigten Staaten dagegen unternehmen?«
fragte Greenfield. «Ihre Landsleute haben doch alle Versuche blockiert, Regierung und Gesellschaft zu reformieren! Russische Spitzenpolitiker können den Gedanken nicht ertragen, irgendein erfolgreicher Wurstfabrikant könnte reicher werden als sie.«
»Ich sage Ihnen, Sharon Greenfield, verschiedene Spitzenpolitiker werden handeln müssen, nur am Leben zu bleiben – nicht nur politisch, sondern auch richtig am Leben«, sagte Dwornikow ernsthaft.
»Was wird die Gemeinschaft tun, wenn eines ihrer Mitglieder ins Baltikum einmarschiert?« fragte Greenfield weiter.
»Was könnte sie schon tun? Welche Mittel stünden ihr zur Verfügung?«
»Welche Mittel? Die Gemeinschaft hat drei Millionen Mann unter Waffen – zwei Drittel davon in der Westhälfte ihres Gebiets.«
»Und viele der Mitgliedsstaaten besitzen Atomwaffen«, sagte Dwornikow. »Sie sollten abgerüstet oder nach Rußland zurückgebracht werden, und die meisten interkontinentalen Waffen sind auch wenigstens deaktiviert worden – aber die meisten taktischen und Gefechtsfeldwaffen nicht. Sollte ein Mitgliedsstaat auf eigene Faust handeln, droht schlimmstenfalls ein Atomkrieg zwischen den GUS-Mitgliedern. Aber vermutlich würde die Gemeinschaft die Besetzung des Baltikums billigen, um ihren Zusammenhalt zu fördern.
Aber wenn sich der Westen einmischt, wäre ein Atomkrieg wahrscheinlich – sehr wahrscheinlich. Mit dem Irak und seiner Rolle im Golfkrieg ist das nicht zu vergleichen, Sharon, denn Atomwaffen – und die Entschlossenheit, sie einzusetzen –, gibt es bei uns wirklich.«
Dwornikow beugte sich zu ihr hinüber und sagte nachdrücklich: »Die Vereinigten Staaten dürfen auf keinen Fall eingreifen, falls das Baltikum annektiert wird.«
Da haben wir’s! dachte Greenfield. Jetzt ist die Katze aus dem Sack.
»Klingt das nicht wie ein Gespräch zwischen Hitler und Stalin am Vorabend des Zweiten Weltkriegs? ›Für wohlwollendes Stillhalten können Sie Estland, Lettland und Litauen haben; wir nehmen dann die Tschechei und Ungarn…‹«
»Ah, Sharon, es ist dieser köstliche Sinn für Humor, den ich so an Ihnen schätze! Er hat all die Jahre unserer Bekanntschaft überdauert.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Boris Grigorjewitsch« fauchte Greenfield. »Ich bin ohnehin schon zu lange hier. Ihre Informationen sind sehr interessant, aber natürlich beobachten auch wir die Entwicklung im Baltikum aufmerksam. Was ich wirklich will, ist dieser Amerikaner im Fisikus. Informationen über ihn wären äußerst wertvoll, und direkte Hilfe könnte Ihnen ein Einreisevisum und eine Green Card einbringen – mit schönem Gruß von der CIA. Dann können Sie herumreisen und mit irgendwelchen Vorträgen mehr verdienen als der Präsident der Vereinigten Staaten. Sorgen Sie dafür, daß ich jemanden reinschmuggeln kann, der diesen Amerikaner überprüft, und helfen Sie mir, ihn dort rauszuholen, dann können Sie Ihren Preis selbst festlegen.«
»Sehr reizvoll«, meinte Dwornikow, »aber das mit den Vortragsreisen klingt langweilig. Warum sollte ich außerdem mein schönes Rußland verlassen?
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